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Zaungast in Rapallo

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Vor wenigen Jahren saßen wir abends in Freiburg, der einstigen Hauptstadt Vorderösterreichs, in Oberkirchs Weinstube am Münsterplatz bei einem Glas Kaiserstuhler Wein. Mit meinem Tischgenossen verband mich eine Bekanntschaft von fast vier Jahrzehnten. Er, Dr. Josef W i r t h, hatte, als ich ihn kennenlernte, gerade das 40. Lebensjahr erreicht. Von Beruf war er Mittelschulprofessor in seiner engeren Heimat, als solcher schon ein bekannter Politiker, der dem katholischen Zentrum angehörte. Beim Kriegsausbruch, 1914, war er Mitglied des deutschen Reichstages, nach Kriegsende gehörte er auch der Weimarei Nationalversammlung an. In seinem Heimatland Baden war er schon Finanzminister und wenige Monate nach unserer Bekanntschaft — 1920 — Reichsfinanzminister. Eine weitere steile und rasche Karriere stand noch vor ihm: ein Jahr später war ei Reichskanzler... Als wir einander wieder trafen, hatte er die Führuni der deutschen Delegation bei der Weltwirtschaftskonferenz in Genua im Jahr 1922 inne. Sein Außenminister hieß Dr. Walter Rathenau.

Gegenüber dem herrlichen Münster und in der nächsten Nachbarschaft des schönen mittelalterlichen Kaufhauses, das heute noch das alte Habsburgerwappen Maximilians des letzten Ritters trägt, waren unsere Gespräche in der Hauptsache alten Er-, innerungen gewidmet. Zur Zeit unserer Freiburger Begegnung war Dr. Wirth schon krank, auch seelisch ziemlich hergenommen. In der neuen Epoche, die nach dem zweiten Weltkrieg folgte, konnte er in der Politik keinen Fuß fassen; ein solcher Versuch endete mit einem völligen Mißerfolg. Er war verdrossen, verbittert. Was ihn noch seelisch am Leben hielt, war die Vergangenheit, die persönliche Glanzzeil seines privaten und politischen Lebens und Wirkens, die Zeit der großen Konferenz von Genua. Er war eben der höchste politische Vertreter eines Landes, eines Volkes, das damals in Genua in der Rangliste unter etlichen Dutzenden von Nationen mit den Russen zusammen auf der letzten Stufe stand. Beide wurden als „Proletarier unter den Völkern“ von den ehemaligen Siegern klassifiziert und behandelt. Bis dann die große Wendung kam! Und diese Wendung machte später, als er schon auf seine Erinnerungen angewiesen war, seinen eigentlichen Lebensinhalt aus. In Genua rückte er in das grelle Scheinwerferlicht des Weltinteresses.

In einer „neuen, schönen Welt“

Schon an der am Anfang länner 1922 in Cannes abgehaltenen Konferenz des Obersten Rates der Entente wurde die Einberufung einer großen Wirtschaftskonferenz im Frühjahr in Genua in Aussicht genommen. Diese trat dann am 12. April tatsächlich zusammen. Aber B r i a n d, der französische Ministerpräsident, der in Cannes in der Frage der deutschen Reparationszahlungen merkbares Verständnis und Geneigtheit zur Gewährung von Erleichterungen zeigte, konnte an den Beratungen in Genua nicht mehr teilnehmen, da er noch während seines Aufenthaltes in Cannes von Poincare gestürzt wurde. So wurde Frankreich von Poincares Außenminister Barthou vertreten. Außer den Staatsmännern, vor allem den Regierungschefs und den Außen Mitarbeitern, waren zu der Konferenz auch die Vertreter der Presse eingeladen worden. Ihr Erscheinen beziehungsweise ihre Teilnahme an der Konferenz war aber an die Bedingung geknüpft, daß sie als Pressevertreter von ihren Regierungen offiziell angemeldet werden. Auf Grund dieser Anmeldung wurde dann in Genua im Pressehaus — Casa della Stampa — die offizielle Legitimation, „Tessera“, ausgestellt. Nicht weniger als 700 Berichterstatter waren bei der Konferenzbehörde akkreditiert gewesen, damals eine ungewöhnlich hohe Zahl.

So waren wir in den ersten Apriltagen in Genua erschienen, wo auf uns eine Einweisung der „Conferenza Internationale Economica“ in das Al-bergo Italia in der Via Carlo Feiice schon wartete. Das Hotel liegt mitten in der Stadt, in unmittelbarer Nähe des Pressepalastes. Natürlich führte uns der erste Weg in den alten Pa-lazzo, dessen Prunksaal als unser Arbeitsraum eingerichtet war. Im Erdgeschoß befand sich ein Espresso, das erste, das ich je gesehen habe. Man war bemüht, uns alle Bequemlichkeiten und Erleichterungen bei der Ausübung unseres Berufes zu gewährleisten.

Nach Jahren eines unglücklichen Krieges und einer nicht weniger qualvollen Nachkriegszeit und nach einem kalten, frostigen Winter, den wir erst vor einem Tag verlassen hatten, befanden wir uns inmitten einer zauberhaften neuen, schönen Welt, die wir nur aus Träumen, bestenfalls aus alten Erinnerungen kannten. Nichts erinnerte uns mehr an den Krieg, nur ein Riesenlager von Kanonen in der Tagliamento-Ebene. Kanonen, die unsere Armee nach dem verlorenen Krieg hatte zurücklassen müssen ...

Es war schon eine neue, eine sonderbare Welt, die sich hier vor unseren Augen aufgetan hatte. Wir, Besiegte, Angehörige der kleinsten Länder, die noch vor drei, vier Jahren Bürger eines Dreiundfünfzigmillionenreiches und dann von der Spitze in die Tiefe gefallen waren, erschienen hier wieder als Menschen, die mit den Siegern als gleichgestellt betrachtet wurden. Diese unsere Rehabilitierung, die uns ein verlorengegangenes Selbstbewußtsein in die Seele zauberte, war in unseren Augen der erste große und wirkliche Erfolg dieser Konferenz.

Bei dem großen Empfang der italienischen Regierung im Palazzo ducale, zu dem unsere Frauen, die uns hierher begleiteten, das erste Mal in Abendtoiletten erschienen, wir in Fräcken, die nach den mageren Kriegs- und Nachkriegsjahren an unseren Figuren wie „von Herrschaften abgelegte Kleider“ aussahen, waren wir von den Gastgebern mit einer Herzlichkeit empfangen worden, als wären wir französische oder gar englische Diplomaten. In diesem großartigen gesellschaftlichen Rahmen konnten wir die Beherrscher der damaligen Welt aus unmittelbarer Nähe betrachten und mit dem einen oder anderen Gespräche fuhren.

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