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Zaungast in Rapallo an

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Barthou wurde Nachfolger Briands im französischen Außenministerium, weil dieser die jetzige Konferenz von Genua gegen den Widerstand der Rechten in Frankreich durchgesetzt hatte. Die paradoxe Rolle seines Nachfolgers bestand nun darin, diese Konferenz zum Scheitern zu bringen. Schon bei seinem ersten Auftreten hatte man den Eindruck, daß er seine Aufgabe gut erfüllen würde: denn er verstrickte sich sofort in eine heftige Debatte mit Tschitscherin, als dieser seine Deklaration über das Verhandlungsprogramm verlesen hatte. Virtuos •handhabte Barthou die Kunst der Rede. Merkwürdig ist nur immer der Abschluß, wenn er sich plötzlich niedersetzt, glaubt man, daß er aus irgendeinem Grund am Weitersprechen gehindert sei. Aber gerade das ist seine spezielle Note, die den Partner verwirren soll.

Tschitscherin erweckte den Eindruck eines deutschen Professors, der gerade eine Vorlesung hält. Weit streckt er seine Arme von sich, um den vorbereiteten Text seiner Rede lesen zu können. Ziemlich eintönig liest er seine Erklärung vor, die Akzentuierung fehlt fast ganz, ob er nun französisch oder englisch spricht Nichts erinnert bei ihm an einen Revolutionär.

Wir haben ihn auch „privat“ gesehen, bei großen gesellschaftlichen Empfängen: sein „Embonpoint“ durch eine Frackweste umhüllt, den Frack mit dem Sowjetorden geschmückt, in der Hand ein Glas mit Champagner. Die Moskauer Revolutionäre gebärde-ten sich überhaupt ganz gesittet. Den sie bestürmenden Journalisten und Photographen standen sie jederzeit freundlich zur Verfügung.

Man erzählt von Tschitscherin, daß er sogar 'dem italienischen König ein Kompliment machte, indem er ihm versicherte:

„Eure Majestät würden einen ganz ausgezeichneten Präsidenten abgeben...“ Auch mit dem Erzbischof von Genua, der bei einem Bankett sein Tischnachbar war, unterhielt er sich ausgezeichnet:

„Die Deutschen können nicht schauspielern, das ist ihr Unglück“, meinte einer der Teilnehmer der Konferenzen dieser Jahre, Geheimrat Meynel, einmal im Privatgespräch. Man erinnert sich daran, wenn man Reichskanzler Dr. Wirth auf der Rednertribüne sieht. Er spricht deutsch — umständlich und monoton, korrekt an den Text der offiziellen Regierungserklärung gebunden, die er Wort für Wort verliest. Sein Publikum versteht die Sprache nicht oder will sie nicht verstehen. Bei der Übersetzung ins Englische und Französische hört man allerdings genau zu, besonders Barthou, der des öfteren protestierend die Hand hebt.

Man kann nicht sagen, daß die Deutschen keine Sympathien finden. In vielen Schaufenstern von Genua findet man sogar das lebensgroße Porträt des Reichskanzlers mit einem erläuternden Text.

Am Ostermontag hatte ich mit dem Leiter der ungarischen Delegation, Ministerpräsident Graf Stefan Bethlen,

) Vgl. „Die Furche“ Nr. 16.

in Nervi, wo er mit der Delegation untergebracht war, ein langes Interview, das mit einer verblüffenden Frage Bethlens begann:

„Na, und was sagt man von dem deutsch-russischen Vertrag?“

„Exzellenz, soll das ein Spaß sein?“ Bethlen schmunzelte: „Nein, Spaß ist das nicht! Denn in der Frühe erhielt ich aus sicherer Quelle eine telephonische Nachricht, daß Rathenau in seinem Hotel in Rapallo in der vergangenen Nacht einen Vertrag unterschrieben hat.“

Ich glaube, daß selbst Bethlen, dieser gewiegte Politiker, über die Folgen und Nachwirkungen dieses Vertrages nicht im Bilde war. Wie er mir erzählte, fuhr er gleich nach Genua, um dort Einzelhci'.n zu erfahren und mit den führende; Staatsmännern Besprechungen zu führen. Bis zum späten Abend dauerten diese Besprechungen.

„Alles hängt jetzt von dieser Entwicklung ab, die russische Frage drängte jede andere in den Hintergrund. Ich glaube, daß selbst Lloyd George nicht weiß, ja nicht ahnt, was jetzt geschehen wird. Alle mitteleuropäischen Probleme, alle die der Nachfolgestaaten der Monarchie, hängen jetzt davon ab, was in der russischen Frage tatsächlich geschehen wird.“

Bethlen hatte die Konferenz von Genua von Anfang an zu mehreren Gesprächen mit dem österreichischen Bundespräsidenten Dr. Schober benützt. Es ging um die Neuordnung der österreichisch-ungarischen Beziehungen. Schon damals war viel von Prälat Dr. S e i p e 1 die Rede gewesen. Dem Protestanten Bethlen war die führende Rolle katholischer Priester in den Nachfolgestaaten der Monarchie nicht entgangen. Neben Seipel sein eigenes Kabinettsmitglied Dr. Josef V a s s und der spätere Ministerpräsident Jugoslawiens, Dr. Anton K o r o s e c, der noch wenige Jahre zuvor slowenischer Abgeordneter im österreichischen Reichsrat gewesen war. Aber zur Stunde trat alles vor der weltpolitischen Sensation des deutsch-russischen Vertrages zurück.

Die Weltpresse sprach nach Bekanntwerden des Abschlusses des Rapallo-Vertrages von einer Bombe, mit der die zwei „Proleten“, die zwei Stiefkinder der europäischen Politik, die Konferenz gesprengt und alle bisherigen Grundlagen der Politik der einstigen Sieger geradezu vernichtet hatten. Deutschland stand nicht mehr allein da, und die erhoffte Regelung der Reparationsforderungen durch eine Heranziehung Rußlands schien schon im ersten Augenblick endgültig erledigt zu sein. Eine Weiterführung der Konferenz erschien fast als eine ziemlich uninteressante Angelegenheit. Man befürchtete eine weiteehende Zusammenarbeit zwischen Rußland und Deutschland und sprach wieder einmal von .,Tauroggen“, wie damals — 1812 —, als der preußische General Yorck mit dem russischen General Diebitsch dort die Militärkonvention abschloß.

Das Wesentliche des Rapallo-Über-einkommens war die Aufhebung des Artikels 116 des Versailler Vertrages, eines Artikels, der den Anspruch Rußlands auf eine Kriegsentschädigung durch Deutschland festlegte. Gerade dieser Paragraph sollte in Genua gegen Deutschland ausgespielt werden. Im Rapallo-Vertrag aber verzichtete Rußland auf seine ihm durch den Artikel 116 zugestandenen Rechte. Darüber hinaus räumte es Deutschland das Meistbegünstigungsrecht ein. Sozusagen als Tausch dafür nahm Deutschland die russische Forderung zur Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern an. Später kam es zu dem, was die Entente schon in Genua befürchtet hatte, nämlich zu einer geheimen militärischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Rußland.

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