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Große und kleine Statisten

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„Einen ähnlichen Wirtschaftsvertrag, den wir mit der Tschechslowakei abgeschlossen haben, würden wir gerne mit jedem Nachfolgestaat der Monarchie abschließen. Es tut mir sehr leid, daß wir den ersten Wirtschaftsvertrag nicht mit Ungarn vereinbaren konnten, denn wenn dies der Fall gewesen wäre, hätten die Gerüchte über unseren Eintritt in die .Kleine Entente' nie aufkommen können. Aber die noch nicht erledigte westungarische — burgenländische — Frage stand da als Hindernis im Wege. Ungarn hat außer dem weiteren Verbleib Ödenburgs bei Ungarn noch verschiedene Grenzberichtigungen verlangt, aber durch die Erfüllung der diesbezüglichen Wünsche wäre vom Burgenland nur ein schmaler Streifen für uns übriggeblieben. Durch kleinere Korrekturen ist aber diese Frage bereits erledigt, so daß wir hoffen können, daß die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern nicht mehr beeinträchtigt werden.“

Die kleinen Völker spielten auf dieser Konferenz zwar keine bedeutende Rolle, aber ihre Vertreter waren in großer Zahl erschienen. Der geschäftstüchtige tschechische Außenminister Dr. B e n e s c h versuchte sich in den Vordergrund zu spielen, aber der schwedische Sozialistenführer Branting lief ihm zeitweise den Rang ab. Da und dort tauchten sogar noch Männer aus einer verschollenen Welt auf. Vor kurzem fand ich unter meinen persönlichen Erinnerungen eine Visitenkarte mit folgendem Titel vor: „Dr. Pierre C h o t c h, Minister des Affaires etrangeres du Montenegro. Rome, Via Volturno 7.“ Auch die Adresse in Genua fehlte nicht: Hotel Italie. Was in der Wirklichkeit fehlte, war der Staat Montenegro. Er war schon vor Jahren mit vielen anderen dem Weltkrieg zum Opfer gefallen.

Besonders im Gedächtnis blieb uns die gedrängte, finstere Figur des damaligen Ministerpräsidenten von Bulgarien, Stanbulinski. Bulgarien war zwar ein Königreich, aber der wirkliche Herrscher des Landes war der Ministerpräsident. Der Zufall wollte es, daß ich ihn während meines kurzen Aufenthaltes in Sofia noch sehen konnte. Noch! Einige Tage später brach eine Revolution aus, die den Bauerndiktator wegfegte. Er wurde ermordet.

Nicht nur sein Leben wurde auf solch eine tragische Weise beendet, sondern noch manche andere Akteure der Weltbühne von Genua mußten in den kommenden Jahren einen gewaltsamen, tragischen Tod sterben. Joffe, der erste Mitarbeiter Tschitscherins, den wir auf Grund von Pressemeldungen schon aus den russisch-deutschen Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk kannten — später machten wir auch persönlich seine Bekanntschaft, war er doch der erste diplomatische Vertreter Sowjetrußlands in Wien —, beging nach einigen Jahren in Moskau Selbstmord. Barthou wurde in Marseille bei einem von kroatischen Ustascha-Leuten verübten Attentat auf den jugoslawischen König Alexander ermordet. Der langjährige ungarische Ministerpräsident Graf Bethlen wurde nach dem zweiten Krieg verschleppt und soll dann gestorben sein. Benesch starb zwar keines gewaltsamen Todes, aber der vollständige Zusammenbruch seiner Politik, die auf Erhaltung des bürgerlichen tschechischen Staates gerichtet war, dürfte nicht geringen Anteil an seinem frühzeitigen Tod gehabt haben. Sicherlich ist diese Liste immer noch lückenhaft...

Die große Weltkonferenz von Genua, der erste Versuch, die überdimensionierten Fehler eines letzten Endes fast für alle Länder und Völker unglücklichen Friedensvertrages zu korrigieren, scheiterte, und dieser Mißerfolg brachte die Völker einem neuen Krieg, einem neuen, noch größeren Unglück näher. Das ließ nur noch 17 Jahre auf sich warten

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