"Geschichte nicht ohne Menschen"

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"Ich beschreibe eine Welt, die für den Kulturkreis, auf den wir angeblich so stolz sind, prägend war -deren Träger von der Historiographie ausradiert wurden."

Georg Gaugusch ist gelernter Chemiker, Diplomingenieur, Genealoge, Autor und hauptberuflich Chef eines Wiener Familienunternehmens, des einstigen k. u. k. Stoffhoflieferanten Jungmann & Neffe, gegenüber der Albertina.

Die alten Kundenbücher seines traditionsreichen Geschäftes gaben den Ausschlag für sein einzigartiges Mammutprojekt: Gaugusch arbeitet bereits am dritten Band von "Wer einmal war"; die Erfolgsgeschichte jüdischer Großbürgerfamilien, die den wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg Wiens in der Zeit von 1800 bis 1938 ermöglichten. Es waren tüchtige Unternehmer, die erfolgreiche Dynastien begründeten; reiche Bankiers, Fabrikanten und Großbürger, die zwar zum Teil in den Adelsstand erhoben wurden, von der Aristokratie jedoch nicht als ebenbürtig anerkannt wurden. Tausende Namen werden durch Gauguschs Herkulesarbeit der Vergessenheit entrissen, vor allem aber wird einer der wesentlichsten Zeitabschnitte der Geschichte der Stadt Wien zum ersten Mal präzise erforscht.

DIE FURCHE: Eine unvorstellbar aufwendige Arbeit, die einmal mehr zeigt, wie es mit der Geschichtsaufarbeitung in Österreich bestellt ist. Wieviel Kraft und Leidenschaft braucht man dafür?

Georg Gaugusch: Ich tendiere dazu, fast alles mit Leidenschaft zu machen. Was ich nicht mit Leidenschaft mache, mache ich meistens gar nicht. Natürlich kann man jede Art der historischen Recherche als große Schnitzeljagd interpretieren. Es ist aber mehr. Es ist das Ausfüllen, das Beschreiben einer Welt, die für diesen ganzen Kulturkreis, auf den wir ja angeblich so stolz sind, prägend war. Die Träger dieser Kultur wurden aber von der Historiographie ausradiert. Es geht mir auch darum, dass in Österreich Geschichte gerne ohne Menschen geschrieben wird. Wir haben diesen französischen Ansatz nicht, dass wir sagen, Geschichte wird durch Menschen und von Menschen gemacht, also sind die Menschen auch Zentrum der Geschichte. Bei uns kann man ja problemlos ein historisches Werk schreiben, in dem keine einzige Person aufgeschlüsselt wird. Dem wollte ich etwas entgegensetzen. Mir geht es nicht um das Kollektiv, sondern um das einzelne Individuum. Das ist vielleicht neu für Österreich.

DIE FURCHE: Wird nicht Geschichte ganz bewusst verdrängt, um sie dann je nach politischer Ausrichtung neu zu schreiben?

Gaugusch: Ich weiß nicht, ob das so ist. Man hat sich jedenfalls mehr um die Geschichte der Opfer der NS-Diktatur gekümmert, als um die der Täter. Über sie wollte man nichts allzu Genaues wissen. Jetzt kommt aber eine Generation, die neugierig ist, was die Groß-oder Urgroßeltern in der NS-Zeit gemacht haben. Sie steht dem unbelastet gegenüber, weil sie die Täter nicht mehr gekannt haben. Bei den Nachkommen der Emigranten passiert das Gleiche unter entgegengesetzten Vorzeichen. Sie wollten wissen, was das eigentlich für eine Welt war, aus der die Großeltern gekommen sind. Diese sind plötzlich in Amerika aufgetaucht, haben erklärt, sie hätten keine Verwandten mehr, fühlten sich als Amerikaner und sprachen kein deutsches Wort mehr.

DIE FURCHE: Die unmittelbar betroffene Generation hat, da es sich oft um Täter handelte, fast immer geschwiegen. Warum konnten und wollten aber auch die Opfer nicht sprechen?

Gaugusch: Sie haben die schrecklichen Verbrechen ausgeblendet. Man darf nicht unfair sein. Es war für sie die einzige Möglichkeit, damit umzugehen, oder sie hätten nicht zurückkommen können. Viele Emigranten haben nie wieder einen Fuß auf österreichischen Boden gesetzt. Sie haben aus Amerika geschrieben, sie betreten Wien nicht mehr, weil sie 1938 dort Erfahrungen gemacht haben, die man nicht machen möchte. Ein gestörtes Verhältnis zum Eigentumsbegriff ist ja der österreichischen Gesellschaft immanent geblieben. Der Nationalsozialismus war eine Bewegung des kleinen Mannes und das hat ihn so attraktiv gemacht. Da gibt es beispielsweise einen Rechtsanwalt, nennen wir ihn den Herrn Dr. Rosenzweig. Der kleine Schackl vom Portier, der Sohn, sagt jeden Tag "Guten Morgen, Herr Doktor", und zieht den Hut. Dann kommt das Jahr 1938 und plötzlich ist der Kleine der Chef im Haus und sagt, "jetzt muss ich nicht mehr buckeln vor dem Juden. Jetzt bin i wer!" Dann haben sie dem Herrn Doktor die Wohnung ausgeräumt. Da kamen die niedrigsten Instinkte hervor. Und wenn ich der Rosenzweig bin und mit dem nackten Leben nach Amerika auswandern konnte, dann hab ich ein Problem, wenn ich den wieder auf der Straße sehe.

DIE FURCHE: Würde das heute genauso wieder funktionieren?

Gaugusch: Natürlich! Die ganze Gerechtigkeitsdebatte ist nichts anderes als eine Neiddebatte, weil ja nie hinterfragt wird, warum der eine in einer besseren wirtschaftlichen Lage ist als der andere. Die Argumente waren: Alle Menschen sind gleich. Es gibt aber nichts Unterschiedlicheres als die Menschen. Der eine steht früher auf, geht später schlafen, arbeitet hart und baut sich etwas auf und ist ein wirtschaftlich denkender Mensch, und der andere ist halt gemütlich und bequem. Und dann wundert sich Letzterer, dass er es nicht so weit gebracht hat. Es sind eben nicht alle gleich!

DIE FURCHE: Wie schwierig war die Assimilation der Familien der Ringstraßen-Zeit, die aus allen Ländern der Monarchie nach Wien gekommen sind?

Gaugusch: Es hat keine Assimilation gegeben. Das würde ja suggerieren, dass sich die Minderheit an die Mehrheit angeglichen hat. Das ist damals nicht geschehen. Es hat sich ein bestimmter Teil aus beiden Gruppen in die gleiche Richtung bewegt. In den oberen Gesellschaftsschichten war Religion kein Thema mehr. Wenn jemand sehr religiös war, wurde er sogar ein bisschen belächelt.

DIE FURCHE: Wie kann man sich dann den Antisemitismus erklären?

Gaugusch: Antisemiten wurden die, denen die Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts nicht zum Vorteil gereicht hatten. Genau das wusste Bürgermeister Karl Lueger für sich zu nützen. Er hatte eine rein auf Neid beruhende Gesinnung. Er konnte sich gut verkaufen und hat alles gemacht, das dem kleinen Mann gefallen hat. Nach dem Motto, der da oben soll nicht mehr verdienen! Er war der erste Populist. Es geht bei ihm immer nur um die da oben. Das kommt uns doch heute sehr bekannt vor. Die Situation, die wir jetzt haben, ist absolut vergleichbar mit jener im 19. Jahrhundert. Wir haben eine große Gruppe der Bevölkerung, die an dem ganzen Digitalisierungsschub nicht teilhaben kann und die Politiker predigen dieselben Lösungen, die schon damals nicht funktionierten. Nationalismus, Grenzen zu, einfachste Lösungsansätze. Jeder, der da ein wenig ausschert, macht sich verdächtig. Ähnlich war es damals mit den Juden. Ihnen waren Stellungen bei angesehenen Zünften verboten, sie hatten sich zwangsweise neuen und modernen Methoden zuwenden müssen. Die Verlierer der Modernisierung suchten Schuldige und fanden sie in den Juden.

DIE FURCHE: Erträgt der Österreicher allzu erfolgreiche Menschen nicht?

Gaugusch: Der Österreicher denkt bei jemandem, der erfolgreich ist, nicht, wie hat der das gemacht, wie funktioniert das bei dem, wie schaff' ich das auch. Er denkt sich, den tunk' ich ein! Die meisten verstecken ihre Leistungsfähigkeit, wo sie nur können, um nicht von der Mehrheit abgewatscht zu werden.

DIE FURCHE: Was ist das Schwierigste bei dieser umfangreichen Arbeit? Die Quellensuche?

Gaugusch: Es ist, verglichen mit vor 10 bis 15 Jahren, geradezu paradiesisch. Durch das Internet und die digitale Bereitstellung ist alles viel einfacher geworden. Es gibt Quellen, die früher nicht aufzutreiben waren. Damals musste ich alles mit Karteikarten erarbeiten. Ich kann jetzt mit meinem Scanner und meinem ganzen Arbeitsgerät ein Pensum an einem Tag schaffen, für das ich früher Wochen gebraucht hätte.

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