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Geschlossene Augen

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Vor der Nationalversammlung nahm der neue Unterrichtsminister Frankreichs, Edgar Faure, zur aktuellen Universitätsreform Stellung. Die Auszüge seiner Rede zeigen den Willen zur Totalrevision der bestehenden Ordnung in den Hochschulen Frankreichs.

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Vor der Nationalversammlung nahm der neue Unterrichtsminister Frankreichs, Edgar Faure, zur aktuellen Universitätsreform Stellung. Die Auszüge seiner Rede zeigen den Willen zur Totalrevision der bestehenden Ordnung in den Hochschulen Frankreichs.

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Die Studenten empfinden ein tiefes Unbehagen gegenüber der Welt, in die sie eiintreten sollen, und vor allem gegenüber der Universität, die vorgibt, sie darauf vorzubereiten. Unser Hochschulunterricht kann sich zudem nicht über die Tatsache der Errichtung eines geeinten Europas hinwetgsetzen: Morgen schon werden die Studenten von heute die Füh- ruhgskräfte eines Europa sein, das sich im Aufbau befindet. Das napo- leonische Konzept einer autoritären und zentralisierten Universität ist heute veraltet. Die Erziehung kann sich nicht mehr auf einen isolierten und, klösterlichen Unterricht wie zu Großvaters Zeiten beschränken. Sie muß am Leben der ganzen Nation teilnehmen, und die gesamte Nation muß ihrerseits an ihrer Gestaltung mitwirken. Diese von der Entwicklung auferlegte Notwendigkeit zwingt zu eitler Demokratisierung des Unterrichts, angefangen von der ersten Klasse bis zur Universität. Geben wir auch ehrlich zu, daß die Kinder der Arbeiter und Bauern geringere Aussichten auf ein Hochschulstudium haben als die Kinder der gebildeten Kreise. Um diese Kluft zu verringern und um die Schule zu einem Spiegelbild der Nation zu machen, ist es notwendig, die Fami- lienlbeihilfen weiter zu erhöhen.

Eine Demokratisierung ist aber vor allem bei den Unterrichtsprogrammen und den Prüfungsmethoden notwendig, die unbewußt bestimmte Klassen begünstigen. Die verstärkte Berücksichtigung technisch-wissenschaftlicher Fächer soll gewisse Mißverhältnisse, ja sogar Ungerechtigkeiten mildern. Demokratisierung und Erneuerung: Weit davon entfernt, einander zu widersprechen, sind es diese beiden Themen, die im Mittelpunkt der Bemühungen um die Universität von morgen stehen.

Frankreich hatte im vergangenen Jahr 500.000 Studenten, und auf Grund der vorliegenden Schätzungen rechnet man heuer mit einer Zunahme von .rund 80.000, wovon 10.000 bis 15.000 allein auf Paris entfallen. In diesem Zusammenhang stellt die Frage der Unterbringung dieser Studenten das Hauptproblem dar. Unter dem Druck der Notwendigkeiten wurden einige Gebäude der Universität von Paris zur Verfügung gestellt. Es handelt sich hierbei aber nur um Notmaßnahmen, und es besteht die Absicht, in naher Zukunft echte Universitätsgebäude zu errichten.

Der Aufstand der Studenten gegen die in einem obrigkeitlichen Stil abgehaltenen Vorlesungen hat die Revolte der Lehrpersonen gegen die bürokratische Verwaltung ausgelöst. In Wahrheit sind Lehrer und Schüler heute nicht mehr so weit von einander entfernt. Die einen sind ständig gezwungen, dazuzulemen, und die Studenten rücken ihrerseits oft schon rasch in den Lehrerstand auf.

Der Begriff der „studentischen Rechte“, der sinnlos ist, solange er eine — ich weiß nicht welche — Diktatur der Studenten über die Lehrer oder über die Gesellschaft bezeichnet, wird jedoch verständlich, wenn er die Forderung nach einem Recht, das jedem Menschen zustehen soll, ausdrückt: nach dem Recht, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Der Student will nicht nur eine Nummer in einem Hörsaal sein. Der Professor hingegen verlangt mehr Wertschätzung von seiten der Gesellschaft, die ihm eine wesentlich vorteilhaftere Position bieten könnte, hätte er einen anderen Beruf ergriffen, der ihm kraft seiner Fähigkeiten offengestanden wäre.

Der Fehler des Systems ist es, mit geschlossenen Augen der Welt gegenüberzustehen. Die, wenn auch unterbrochene, Bemühung der Studenten, eine Annäherung an die Arbeiter anzustreben, entsprach der Erkenntnis einer gewissen Isolierung der Klassen ito-der -modernen Welt.- Die Methoden müssen geändert werden, indem der Anteil des Vorlesungsunterrichtes zugunsten von eigenen Recherchen der Studenten, von Diskussionen und Dialogen, verringert wird. Auch das Prüfungssystem muß geändert werden, und man sollte soweit als möglich auf Prüfungen verzichten, die einzig und allein über den Stand der Kenntnisse des Prüflings an einem Sommervormit- tag Aufschluß geben. Das setzt aber eine weitgehende Autonomie des Unterrichts voraus, und es ist selbstverständlich, daß deren Verwirklichung eine langfristige Arbeit sein wird, da alles genauestens überlegt und vorbereitet werden muß.

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