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ICH WAR DER LETZTE PIARISTENSCHÜLER IN PRAG...

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Immer, wenn mir der Zufall Lebenserinnerungen eines Prager Schriftstellers in die Hand spielt (von Friedrich Mauthner, Max Brod, E. E. Kisch, Willy Haas), ersehe ich, daß ich dieselben Schulbänke in der Volksschule gedrückt habe wie sie: Die der Piaristenvolksschule mit öffentlichkeitsrecht in der Prager Herrengasse. Ich bin noch knapp vor Torschluß in diese Volksschule gegangen, wo man Schulgeld zahlen mußte, bevor der Umsturz des Jahres 1918 diese gesperrt hat. Von den fünf alten Lehrern, die teilweise Tschechen waren, gingen drei in Pension, zwei traten zur tschechoslowakischen Nationalkirche über und heirateten. Und so verschwand ein Überbleibsel der alten k. u. k. Monarchie aus Prag, in die bereits der im Jahre 1875 um die Ecke — in der Heinrichsgasse — geborene und in der St.-Heinrichs-Kirche getaufte Rainer Maria Rilke ging, der dann allerdings noch näher wohnte: Bei seinen Großeltern in der Panskä 8 gleich gegenüber dem Schulgebäude. Der mußte natürlich auch manchmal zur Beichte und Kommunion in die Anstaltskapelle oder Kirche, die an der Ecke Panskä-Graben auch heute noch von Gläubigen besucht wird.

Sonst waren die Schüler vielfach Juden, manchmal mehr als die Hälfte, weshalb man ihnen die Worte „Piaristen, schlechte Christen“ nachrief. Die frommen Väter der Piaristen machten aber keinen Unterschied, und so wurde ich sogar vom Schulgeld befreit, als meine Eltern es nicht mehr zahlen konnten. Und trotzdem wurde ich der Lieblingsschüler meines Lehrers Pater Gregor. Wir Juden hatten zweimal jüdischen Religionsunterricht bei Prof. Dr. Thieberger, von 11 bis 12 Uhr, die Christen von 8 bis 9 Uhr, so daß wir später kommen konnten. Einmal kam ich irrtümlicherweise früher, draußen schneite es, und Pater Gregor ließ mich rückwärts niedersetzen. Dann prüfte er Religion, und eine Frage konnte kein Christ beantworten, nur ich, und das zog mir seine Liebe zu.

Früher hatten die Piaristen auch das Graben-Gymnasium bewirtschaftet, aber bereits zu Rilkes und meiner Zeit war es staatlich. Unten war der Buchladen Gustav Neugebauer, wo Phia Rilke, Rainers Mutter, ihren Gedichtband „Ephe- meriden“ herausgegeben hatte. (Heute ist der Buchladen in Linz unter derselben Adresse zu finden: Am Graben.) Am Prager Graben ist heute eine staatliche Industrie.mittelschule für Elektrotechniker, und an Stelle unserer österreichischen Bilder und Mappen und griechischen Götter sind dort Schränke mit technischem Material aufgestellt. Die Schüler kennen den Namen Rilkes kaum mehr.

Patres scholarum piorum war ein geistlicher Orden, der außer den drei üblichen Mönchsgelübden noch ein viertes zu beobachten hatte: Die Mitglieder waren, seinerzeit unentgeltlich, zum Unterricht der Jugend verpflichtet. Er wurde vom spanischen Edelmann Josef Calasanza 1607 gegründet und vom Papst 1621 nach der Schlacht am Weißen Berg bei Prag bestätigt. Die Kleidung der Ordensbrüder glich ganz der der Jesuiten, nur hatten sie einen kürzeren Mantel und schlossen den Rock mit drei ledernen Knöpfen. In der österreichischen Monarchie boten sich ihnen besonders in den böhmischen und polnischen Gebieten große Gelegenheiten, als unter Josef II. alle Orden aufgelöst wurden, die sich nicht mit Schul- oder Krankenpflege befaßten. Erst nach 1848 wurden ihnen die Mittelschulen genommen, das Gymnasium a.m Graben wurde k. u. k. Staatsgymnasium, auch wenn noch lange dort Piaristen in Zivil unterrichteten und im Konvikt lebten. Und die fünfklassige Volksschule hier in der Herrengasse existierte bis zum Staatsumsturz im Jahre 1918.

Unvergeßliche Eindrücke waren für uns diese Volksschulklassen und daher auch die Erinnerungen der Autoren der sogenannten Prager Dichterschule. Franz Werfel erinnerte sich im fernen Amerika während seiner Emigration an diese Schule, an den ersten Schultag, und er hat ein wunderbares Gedicht darüber geschrieben:

In das Haus der Piaristen, zogen wir als große Schar, im gewölbten Raum zu nisten manches lange Kinderjahr.

Ehrenvoll den Schultornister trug ich heut zum erstenmal und zum Neide der Geschwister klappert drinnen ein Penal.

Oben stand auf dem Katheder groß und grau der Kuttenmann, mit dem Finger droht er: Jeder zeigt mir seinen Namen an.

Wenn auch rauh die Stimme knarrte seine Hand war lieb und weich, hinter ihm auf bunter Karte dehnte stolz sich Österreich.

Wenn ich mir die Kindheit hole, wunderlich und unversehrt, glaub’ ich nicht, sie sei wie Kohle längst verglommen, längst verzehrt.

Wo die Kindgespenster nisten, geh’ ich als mein Widerhall ewig zu den Piaristen irgendwo in Gottes All.

Seit dieser Beeinflussung durch Kindheitseindrücke ist in Franz Werfel das Interesse für den Katholizismus immer groß gewesen, gestärkt durch seine Frau, die Witwe Gustav Mahlers, ohne daß Franz Werfel — trotz Lourdes und Rettung, trotz des Buches „Das Lied von Bernadette“ und „Barbara oder die Frömmigkeit“ — sich hätte taufen lassen.

Das Interesse für die Schule hat auch im literarischen Fernsehen seinen Niederschlag gefunden. Das Kölner Fernsehen hat, angeregt durch das erste Werfelsche Gedicht aus dem Jahr 1912, das unter dem Titel „Von den blühenden Gärten der Stadt Prag“ in Wien veröffentlicht wurde, Prager Stätten aufgesucht, die mit seinem Leben Zusammenhängen, und ich konnte dem Wunsch der Femsehleute nach Lokalisierung nachkommen und das sehr gerne, weil ich immer der Meinung war, daß man über diese Schulen — Volksschule und Graben — später Stephansgymnasium — einen netten Dokumentarfilm machen könnte. Von hier gehen die Wege der Schriftsteller R. M. Rilke zum „Laren-Opfer“, Egon Erwin Kischs in die fast gegenüberliegende Zeitungsredaktion des Prager Tagblatts usw. Nur Franz Kafka nahm einen anderen Weg: Er war auch Schüler einer anderen Volks- und Mittelschule. Er allein ging am Fleischmarkt in die Schule, geführt durch die enge, dunkle Theingasse neben der Theinkirche am Altstädter Ring, fortwährend ermahnt von der strengen Köchin, und dann in das Altstädter Realgymnasium, in dessen

Parterreräumen sein Vater das Geschäft hatte. Er kam so vom Gängelband der Köchin und des Vaters nicht los. Ob seine Entwicklung eine andere gewesen wäre, wenn er mit uns in das Piaristengebäude gegangen wäre, das ich noch — gewissermaßen als letzter Mohikaner — vor Torschluß besuchte?

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