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Lebensgeschicke

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Es ist Sprechstunde bei einem Dekan einer österreichischen Universität. Studierende warten bereits darauf vorgelassen zu werden, um ihre Anliegen vortragen zu können. Der Dekan selbst berichtet hier in der „Furche“:

Auftut sich die Türe und hereintritt ein Student mit den Worten: „Herr Dekan, wozu ich eigentlich noch auf der Welt bin, weiß ich nicht; warum bin ich nicht im Feld geblieben?“ Ich heiße ihn sich setzen und forsche nach dem Grunde seines Lebensunmutes. Er berichtet: „Im Gymnasium war ich das, was man einen Vorzugsschüler nennt. Aus der siebenten Klasse wurde ich ohne Matura, aber mit dem Reifevermerk auf dem Abgangszeugnis, zur Luftwaffe einberufen und stand dann über fünf Jahre im Wehrdienst. Zweimal wurde ich verwundet, einmal im rechten Bein, das andere Mal im rechten Arm. Nach dem Lazarettaufenthalt erhielt ich je ein Semester Studienurlaub. Seit der Rückkehr aus der Gefangenschaft im Jahre 1945 studierte ich durch vier Semester weiter, zwri wurden mir wegen des langen Wehrdienstes nachgesehen. Nun habe ich auch bereits alle Prüfungen abgelegt. Im Gymnasium bin ich von der Hitlerjugend zur Partei als Anwärter überstellt worden. Wenige Monate nachher bin ich zur Wehrmacht einberufen worden, die Partei war für mich völlig uninteressant, ich habe keine Verbindung mehr mit ihr gehabt. Zweimal schon wurde ich während des Studiums politisch überprüft und jedesmal anstandslos als tragbar befunden. Und trotzdem soll ich jetzt nach dem Nationalsozialistengesetz bis 30. April 1950 ausgeschlossen werden. Was soll ich anfangen? Eine Umschulung oder ein Handwerk kommen für mich schon wegen meiner Gliedersteife, die ich mir im Kriege geholt habe, nicht in Frage. Ohne Erwerb halte ich aber bis dahin nicht durch. Es bleibt mir daher nur noch der Strick, was soll ich sonst tun?“ „Schauen Sie“, erwidere ich, „gerade Ihr Fall ist durchaus nicht hoffnungslos. Ich sehe nicht so schwarz wie Sie. Voraussichtlich wird sich etwas machen lassen. Kommen Sie nächste Woche wieder, und ich hoffe, Ihnen bis dahin schon Bestimmteres sagen zu können.“ Halb getröstet verläßt der Trostlose das Dekanat.

Darauf ein anderer: „Herr Dekan, vorige Woche bin ich aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt.“ Ich frage ihn, wie es ihm hiebei ergangen ist. Er weiß darüber nicht viel Gutes zu berichten und fährt dann fort: „Ich freute mich schon nach Hause. Wie ich nach Wien komme, suche ich natürlich zunächst meine Eltern und Geschwister. Bis heute konnte ich sie nicht finden, nichts über sie erfahren. Ich weiß nicht, leben sie noch oder sind sie tot, sind sie ausgewandert, verschleppt, vergast, verschüttet oder was sonst mit ihnen ist. Nirgends konnte ich bisher darüber etwas Zuverlässiges erfahren. Im Geschäft meines Vaters sitzt ein anderer; wie er hineingekommen ist, weiß ich nicht. Haus und Wohnung sind zerbombt und gründlich ausgeplündert. Ich habe buchstäblich alles verloren. Die Kleidung, in der ich hier erscheine, hat mir ein Freund geborgt, weil ich selber keine Zivilkleidung habe. Herr Dekan, ich muß und werde das Leben von neuem beginnen Ich möchte studieren. Wie fange ich das an, da ich doch all meine Zcuenisse eingebüßt habe?“ Ich gebe ihm hierüber die nötigen Aufschlüsse und entlasse ihn mit den Worten: „Ihren Heroismus kann ich nur bewundern.“

Solche und ähnliche Lebensschicksale kann man In jeder Sprechstunde einer österreichischen Hochschule des öfteren erfahren, namentlich wenn man versucht, so etwas wie — um ein neugeprägtes Wort der Medizin zu verwenden — Logotherapie zu betreiben. Und da frage ich mich: Wäre es nicht möglich, diese Lebensschicksale ein-zufangen und für die Zukunft zu verwerten? Zunächst habe ich daran gedacht, die Stucpenten zu veranlassen, bei der Inskription ihre Erlebnisse zwischen 1935 und 1945 — sofern sie, was die Regel ist, Schicksalsbedeutung haben — kurz aufzuzeichnen und ohne Nennung von Namen und Unterschrift abzugeben. Doch müßte ein derartiges Unternehmen auf weit breitere Grundlagen gestellt werden. Auch außerhalb Wiens, Österreichs, Europas haben sich ähnliche Tragödien zu Tausenden zugetragen. Überall auf der Welt gibt's Menschen, die vom Schicksal verfolgt wurden und oft ein härteres Mißgeschick mitzumachen, hatten, als die grausamste Phantasie sich auszudenken vermag. Wäre da nicht eine Organisation zuständig, die derartige Aufzeichnungen von Lebensschicksalen veranlaßt, sammelt, um das Weltgewissen mit diesem erschütternden Material zu alarmieren, vielleicht auch dieses Unmaß menschlichen Leides sodann literarisch, künstlerisch oder wissenschaftlich zum Nutzen der Menschheit auszuwerten, und sei es schließlich nur, um der Nachwelt Zeugnis zu geben von dem Unglück, das politisches Abenteuertum, ein Krieg, Unverstand, Haß und entzügelte Leidenschaft über die Welt gebracht haben? ,

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