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Powells Rechnung

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Nun haben die mehr oder weniger berufsmäßigen Demonstranten, deren es so viele auch in England gibt, doch einmal etwas erreicht. Zwar wurden in London keine Polizisten getötet wie in Nordirland, aber siebzehn Polizisten wurden immerhin ziemlich schwer verletzt. Den Vorwand zur Demonstration lieferte diesmal die „Rassenfrage“, das angebliche Rassenvorurteil, zu dessen Bekämpfung die Labour-Party-Regierung oder richtiger: der frühere Innenminister Callaghan, vielleicht mit nicht ganz glücklicher Hand ein Sondergesetz geschaffen hat.

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Nun haben die mehr oder weniger berufsmäßigen Demonstranten, deren es so viele auch in England gibt, doch einmal etwas erreicht. Zwar wurden in London keine Polizisten getötet wie in Nordirland, aber siebzehn Polizisten wurden immerhin ziemlich schwer verletzt. Den Vorwand zur Demonstration lieferte diesmal die „Rassenfrage“, das angebliche Rassenvorurteil, zu dessen Bekämpfung die Labour-Party-Regierung oder richtiger: der frühere Innenminister Callaghan, vielleicht mit nicht ganz glücklicher Hand ein Sondergesetz geschaffen hat.

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Immerhin hätte Callaghan weiser gehandelt, wenn er das Wort „Rasse“ in diesem Zusammenhang vermieden hätte. Einwanderer brauchen ohne Zweifel Beratung und Hilfe. In ihrer Unkenntnis der lokalen Verhältnisse sind sie manchmal skrupelloser Ausbeutung ausgesetzt. Es mag vorgekommen sein, daß man von ihnen zu hohe Mieten verlangt hat, es dürfte vorgekommen sein,daß man ihnen Arbeits- und Geschäftsgelegenheiten angeboten hat, die den englischen Gesetzen zuwiderliefen. Hie und da mögen auch sträfliche Handlungen, grobe Beleidigungen oder gar Prügeleien und Körperverletzungen vorgekommen sein. War aber, um derlei hintanzuhalten, der Begriff „Rasse“ nötig? Man sollte meinen, daß das britische Gesetz Beitrug, Ausbeutung, grobe Beleidigung und Körperverletzung unter allen Umständen verbietet, ob das Opfer solchen Tuns nun ein Inländer oder ein Ausländer, ein Europäer oder ein Asiate, ein Amerikaner oder ein Afrikaner ist. Orientierung über Arbeitsmög-lichkeiten und über gesetzlich zulässige Arbeitsbedingungen, in manchen Fällen auch Rechtsberatung (unentgeltlich oder zu angemessenen Preisen) haben neue Einwanderer vermutlich mehr nötig als ansässige Staatsbürger, und es war richtig, eine behördliche Zentralstelle für die bedürftigen Einwanderer zu diesem Zwecke zu organisieren. Es dürfte aber wohl kaum jemals vorgekommen sein, daß ein britischer Arzt einem kranken Menschen wegen seiner Hautfarbe die Hilfe, daß ein britischer Beamter oder Richter einem bedürftigen „Farbigen“ den Rechtsschutz verweigert hätte. Tatsächlich besagte denn auch der letzte Bericht (1969) des „Ausschusses für Rassenbeziehungen“, daß die Callaghan-Behörde zuwenig zu tun habe, weil ihr keine Klagen zugegangen seien und ohne Klage habe sie nicht das Recht, zu intervenieren. Unnötig zu sagen, daß diese Klagelosigkeit einer Klagestelle dem konservativen Humoristen Peter Simple im „Daily Telegraph“ reichlichen Anlaß zur Belustigung seiner Leser lieferte.

Nach der vermutlich pessimistischen Rechnung von Enoch Powell (der als Abgeordneter eines Industriebezirkes, in welchem die Einwanderung von Asiaten, Westindern afrikanischer Rasse und mancher Afrikaner die soziale Spannungen in den letzten Jahren verschärft hat, nach einer Einwanderungspolitik verlangt) werden die farbigen Einwanderer in zwanzig Jahren etwa die Zahl von zweieinhalb Millionen erreichen, also ungefähr 5 Prozent der Bevölkerung Großbritaniens ausmachen. Eine Minderheit dieser Art könnte ein großer Staat vermutlich noch vertragen.

Tatsache ist, daß England, wie jeder hochentwickelte Industriestaat,

Fremdarbeiter oder, wie es im Deutschen neuerdings heißt, Gastarbeiter anzieht und auch zu verwenden vermag. Was in England die auch an-denswo landläufige Situation kompliziert macht, ist die Tatsache, daß diese Fremdarbeiter in der überwiegenden Mehrzahl Staatsbürger unabhängiger Commonwealth-Staaten sind und daher volles Wahlrecht und volle Bürgerrechte in England genießen. Fremdarbeiter in Deutschland oder in Frankreich, in Holland und Belgien sind Griechen, Süditaliener, Spanier, auch Portugiesen, Kroaten; in Südfrankreich vielfach Nordafrikamer. Nach einigen Jahren kehren sie alle, oder die meisten, in ihre Heimat zurück, mit Ersparnissen in guten Devisen. Aus einem Fremdarbeiter in Westeuropa kann man in Griechenland ein Villenbesitzer mit Sommergästen, ein Taxifahrer in Tunis, ein kleiner Kaufmann oder Unternehmer in Spanien oder in Portugal werden. Inder und Pakistan! sind jedoch viel weniger geneigt, in ihr überbevölkertes Land zurückzukehren. In früheren britischen Kolonien Afrikas bildeten die Inder und die Pakistani eine Art von Oberschicht, sie galten als „Fast-Europäer“ und sie waren als kleine oder mittlere Kaufleute wirtschaftlich gut situiert, besser als der afrikanische Durchschnitt. Man wollte Südafrika zum Grundsatz der Rassengleichheit des britischen Commonwealth zwingen und bekanntlich hat die Union diesen Versuch mit dem Austritt aus dem Verbände des Commonwealth beantwortet. Rhodesien wurde im Jahre 1965 wegen Ablehnung desselben Prinzips aus dem Commonwealth ausgeschlossen. Dagegen wollen die meisten neuen Staaten die Einbürgerung von Indern und Pakistani in ihren Staatsverband nicht gestatten und so wanderten denn aus Kenya, aus Tansanien und Ni-gerien Tausende von Pakistani und Indern nach England ein. Trotz ihrer äußeren Erscheinung kennen diese Inder und Pakistani das Land ihrer Vorväter in vielen Fällen gar nicht. Sie sind als zweite oder dritte Generation in Afrika geboren, in englischen Schulen erzogen, von Missionaren anglikanisch, presbyteria-nisch, manchmal auch katholisch getauft worden, die Brahmanen-Reli-gion Indiens ist ihnen fremd, und wenn sie als Paistani Muselmanen sind, können sie zwar die arabische, nicht aber die pakistanische Urdu-Schrift lesen.

Deshalb tut eine vernünftige Einwanderungspolitik Not, eventuell sogar eine durchdachte Minderheitenpolitik, mit Schulen für muselmanische oder indische Kinder, mit Selbsthilfe durch autonome Kultur-und Wohlfahrtsinstitutionen. Was aber die „Schwarze Macht“ betrifft, so dürfte sie ein Polizeiproblem bleiben. Allerdings sollten Menschen, die die Freiheit lieben, solchen Organisationen keinen Erfolg wünschen. Freiheitsliebe wünscht weniger und nicht mehr Polizeimacht im Staate, und solche Bewegungen fahren unvermeidlich zu erweiterten Polizeibefugnissen. Das aber hat in England bisher niemand gewünscht, am wenigsten die Polizeibeamten, denen freie Zeit zum Lesen von Detektivromanen lieber ist als Untersuchungen gegen Verschwörerorganisationen und politisch gefärbte Ban-

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