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STATT EINES QUERSCHNITTES

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Der untenstehende Brief erreichte uns Vor Weihnachten. Wir geben ihn kommentarlos und ohne Veränderungen wieder.

Ich bin heute 36 Jahre alt. Daß ich erst mit 27 Jahren Arzt geworden bin, ist natürlich nicht meine Schuld. Jene Jahre, die der junge Mensch meist im glücklichen Vollbesitz aller Jugend-kräfte verbringen kann, hat der Krieg gefordert. Von meinem 20. bis zum vollendeten 24. Lebensjahr stand ich an der Front. Nicht freiwillig und ohne Möglichkeit, dem unbarmherzigen Schicksal entrinnen zu können. Und hart, sehr hart war der Weg bis zur Promotion, denn neben dem Studium war auch der Broterwerb wichtig. Ich wog ganze 65 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,78 Meter, als ich das Diplom im ungeheizten Festsaal der Wiener Universität an einem kalten Wintertag erhielt. Freudlos war jene Feier, die folgenden Jahre waren nicht anders. Volle zwei Jahre arbeitete ich als Gastarzt, versah einen vollwertigen Dienst in verschiedenen Spitälern und bekam dafür nicht einen Groschen. Endlich, im Alter von 29 Jahren, wurde jch angestellt und. .bekam m<mm-über 500 S im Monat. Woher ich den Mut, nahm zur Eheschließung und zur Zeugung- von zwei — gottlob — gesunden Kindern ist mir heute vollkommen schleierhaft. Es war eine mehr als karge Zeit, diese Zeit in den Spitälern, es mangelte immer am Nötigsten. Auch war das Wohnen bei den Schwiegereltern kein reines Vergnügen. Sehr gerne hätte ich ein Fach gemacht, besonders die Interne Medizin hat mich sehr angezogen. Aber es war vollkommen sinnlos, ohne Protektion zu einer Assistentenstelle zu kommen.

Schlimm war es, als ich vor vier Jahren, nach absolviertem Turnus, aus dem Spital entlassen wurde. Es war mir gelungen, in Untermiete zwei Räume zu bekommen, und ich eröffnete eine eigene Praxis. Ich tat ein übriges und meldete mich bei den Krankenkassen an. Man gab mir einen Vertrag mit den sogenannten kleinen Kassen, und trotz aller Ambitioniert-heit, größtem Fleiß und unermüdlichem Weiterstudium konnte ich nur knapp das Auslangen finden. Privatpatienten gibt es fast keine und die Mehrzahl aller Krankenversicherten ist bei der Gebietskrankenkasse. Und die gab mir keinen Vertrag. Ich war mehrmals beim Chefarzt, und als man mir eindeutig zu verstehen gab, daß ohne Mitgliedschaft beim Bund Sozialistischer Akademiker überhaupt keine Chance bestünde, unterschrieb ich die Beitrittserklärung. Es nützte gar nichts.

Vier Jahre nun raufte ich mich durch das Leben. Ich pflegte alte Menschen, half unheilbaren mittellosen Menschen und schrieb hie und da für die eine oder andere Zeitung, ging als Arzneimittelvertreter bei einer kleinen Firma und konnte mich und meine Familie knapp über Wasser halten. Wohl versuchte ich sehr oft, eine Stelle als Schularzt, Werksarzt, Betriebsarzt, Arzt in den verschiedenen Sozialinstituten, Theaterarzt und andere Stellen zu bekommen. Aber vergebens.

Andere Menschen haben 13 oder 14 Monatsgehälter, bezahlten Urlaub und eine vollkommene Sozialversicherung. Als Arzt habe ich kein Fixum, würde ich auf Urlaub fahren, dann müßte ich in dieser Zeit mit der Familie von der Luft leben. Wenn mir etwas zustößt, dann steht meine Familie vor dem Nichts.

Ich bin heute 36 Jahre alt. Ich habe vier Klassen Volksschule, acht Klassen Mittelschule und fünf Jahre Hochschule absolviert. Anschließend verbrachte ich zur Ausbildung fünf Jahre in verschiedenen Spitälern. Das macht zusammen einen 22jährigen Bildungsgang. Und heute verdiente ich noch immer nicht soviel wie ein gewöhnlicher Hilfsarbeiter. Es gab Monate, wo .mir weniger als 1500 S verblieben. Erst vorige Woche war ich wieder in der Aerzte-kammer und versuchte, irgendeine Möglichkeit zu finden, mein berufliches Dasein auf eine stabile Basis zu stellen. Ich hörte zum hundertsten Male, daß es eben nicht gut war, Medizin zu studieren, und ich mich eben noch gedulden müßte. Am gleichen Tag sprach ich nochmals in der Wiener Gebietskrankenkasse vor, man sagte mir dasselbe. Vor drei oder vier Jahren ist nichts zu machen, es warten zu viele auf einen Vertrag.

So habe ich ein Zeitungsinserat beantwortet. Und seit gestern bin ich im Büro einer Speditionsfirma. Ich sitze an einem Schreibtisch, habe ein fixes Gehalt von mehr als 1800 S, bekomme 13 Monatsgehälter und bin sozialversichert. Viele haben mir gesagt, ich sei ein guter Arzt. Ich war es vielleicht einmal, denn jetzt bin ich es nicht mehr. Ich bin heute ein einfacher Angestellter. Aber ich lebe sicherer und meine Familie ist glücklich. Denn'das Gehalt wird allmählich steigen, ich werde auch auf Urlaub fahren können.'Ich werde l<eine Umsatzsteuer mehr bezahlen müssen und auch keine Einkommensteuer, ich habe eine Arbeitszeit von 48 Stunden und niemand wird mich in der Nacht stören. Es wäre schön gewesen, Arzt zu sein, aber den Magen meiner Kinder konnte ich nicht füllen. Und die Tätigkeit bei jener Speditionsfirma ist sogar interessant ...

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