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Überlebt unsere Zivilisation?

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„Du kannst die Natur mit der Mistgabel verjagen, aber sie wird irrcmer wieder zurückkehren.“ Dieser Urteilsspruch stammt von einem in die letzte Generation der hundertjährigen römischen Revolution hin-eingeborenen Dichter. Horaz sprach aus Erfahrung, und seine Worte sind auch für unsere Erfahrungen erschreckend gültig.

Es liegt eine ewige Neigung zur Gewalt und zur Grausamkeit in der menschlichen Natur. Wir erhalten heute aus allen Teilen der Welt verbürgte Berichte über kaltblütige Folterungen. Wir hatten versucht, die kaltblütig begangenen Verbrechen der Nazis als eine Geistesverwirrung zu erklären. Die Nazis waren von den Alliierten besiegt worden; das deutsche Volk hatte sich von ihnen abgewandt; und wir redeten uns in der Folge ein, der vorübergehend zum Stillstand gebrachte Fortschritt der Zivilisation sei nun wieder aufgenommen worden. Doch schon bald griff die französische Armee in ihrem Kampf gegen die algerische Widerstandsbewegung zum Mittel der Folter, und heute, ein Viertel Jahrhundert nach dem Sieg über die Nazis, erhalten wir Informationen über naziartige Untaten in Griechenland, Brasilien, Israel und Vietnam — um nur vier besonders aufsehenerregende Fälle zu nennen.

Wir erkennen, daß es sich beim Nazismus nicht nur um eine vereinzelte Verirrung handelte. Er war ein Zeichen der Zeit; eine Ankündigung des gegenwärtigen Wiederauflebens der primitiven menschlichen Natur, die überall auf der Welt durch die Tünche der Zivilisation dringt. Die Barbarei stellt die Technik in den Dienst ihrer entsetzlichen Zwecke. Wir lernten fliegen und Atome spalten. Und wie wandten wir diese technischen Errungenschaften an? Die Namen von fünf Städten geben die Antwort auf diese Frage: Guernica, Coventry, Dresden, Hiroshima, Nagasaki.

Die zunehmende Brutalität in den innenpolitischen Auseinandersetzungen ist vielleicht noch beunruhigender. In den Vereinigten Staaten und in Frankreich unterdrückte die Polizei — und darüber hinaus auch die Nationalgarde — die Demonstrationen und den Aufruhr der Studenten mit einer Härte, die Haß verriet. In den Vereinigten Staaten stehen auch die weißen Arbeiter den Schwarzen und Studenten feindselig gegenüber. Es ist heute in den Vereinigten Staaten in der Tat ein richtiger Klassen- und Rassenkrieg in Sicht. Vielleicht war die Erschießung von vier Studenten der Kent State University ein ebenso tragischer Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte wie die Ermordung von Tiberius Gracchus in der Geschichte Roms.

Jene unserer Zeitgenossen, die in der westlichen Zivilisation der Zeit vor 1914 geboren und erzogen wurden, haben eine ganz andere Entwicklung der Welt erlebt, als sie erwarteten. In der Epoche, in der wir zur Welt kamen, hatte die Zivilisation der Barbarei im Verlaufe von zweihundert Jahren ständig an Boden abgewonnen. Unsere Vorfahren hatten den Sklavenhandel abgeschafft, dann die Sklaverei selbst. Sie hatten die Menschen- und Tierquälerei verurteilt. Sie hatten die Todesstrafe für kleinere Vergehen beseitigt. Sie hatten sich bemüht, den Krieg auf eine Auseinandersetzung zwischen uniformierten Soldaten zu reduzieren, die Zivilbevölkerung vor der Plünderung, der Ermordung, der Vertreibung zu bewahren. Sie hatten das Internationale Rote Kreuz gegründet. Auf Grund dieser Teilsiege der Zivilisation gelangten wir zur Überzeugung, daß die Barbarei ihre letzten Rückzugsgefechte liefere und zur Niederlage verurteilt sei. Wir glaubten, das parlamentarische System, die Herrschaft der Verfassung und der Gesetze werde sich von den westlichen Ländern aus, in denen sie zuerst vollendet worden waren, auf den Rest der Welt ausdehnen.

Heute fragen wir uns sogar, ob diese Errungenschaften unserer Zivilisation auf ihrem Heimatboden überleben werden.

Welche Lektion müssen wir aus unseren unerwarteten und ernüchternden Erfahrungen ziehen? Sie haben uns gezeigt, daß sich in der Wissenschaft und der Technologie der Fortschritt zwar weiterentwickelt, daß es jedoch keinen ständigen Fortschritt in Richtung auf eine immer größere Menschlichkeit in unseren Beziehungen gibt. Im sozialen und geistigen Bereich beginnt der Kampf gegen die in der menschlichen Natur liegende Barbarei stets von neuem. Jeder Einzelne muß ihn in sich ausfechten — vom Augenblick an, da er zum Bewußtsein erwacht, bis zum Tod oder zur Senilität. Selbstbeherrschung, Liebe und Verzeihen sind die ersten und die letzten Forderungen, die der Mensch an seine sündige Natur stellen muß. Dies ist die einheitliche Lehre aller historischen Religionen und Philosophien.

Als im zweiten Weltkrieg die Kathedrale von Coventry bombardiert wurde, antwortete der Vorsteher der Kathedrale sogleich auf die Herausforderung. Er setzte aus zwei verkohlten Balken ein Kreuz zusammen und schrieb auf die zerfallene, versengte Kirchenmauer, an der er das improvisierte Kreuz befestigte, die Worte: „Vater, vergib.“ Diese unbestimmten Worte genügten, denn wir brauchen alle Verzeihung. Alle Menschen sind für die Unmenschlichkeit der Menschen gegenüber den Menschen verantwortlich; wir brauchen alle Vergebung, weil wir wissen, daß wir gegen das Licht sündigen.

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