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ZAHLEN-LICHTSPIELE

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DA LIEST MAN SIE NUN in Meldungen, in Produktionsberichten, schließlich auch in Kritiken, ferner auf den Inse- ratenseiten der Zeitungen, den Werbeanschlägen der Kinos usw.: irgendeine Zahl, eine paar Ziffern nur — sonst nichts. Es handelt sich hier um Filmtitel. „114” zum Beispiel ist die Bezeichnung eines griechischen Lichtspiels, „491” die eines schwedischen Streifens. Fürs erste kann kein Mensch, am allerwenigsten der sogenannte „durchschnittliche Theaterbesucher”, damit etwas anfangen — sofern er nicht ausnahmsweise ein Experte, das heißt in den genannten Fällen entweder verfassungskundig oder bibelfest ist; eine Eigenschaft, die man, wie billig, nicht ohne weiteres bei jedem Freund der zehnten Muse voraussetzen darf. Indes tun das die Titu- lierer belichteten Zelluloids ungeniert, neuerdings sogar in besonderem Maße …

SCHON FRÜH, bereits in den „Gründerjahren” der Kinematographie, kennt man Zahlen als Titel. Allerdings war das, wofür sie standen, in den meisten Fällen zumindest dem einheimischen Publikum bekannt, so daß es verhältnismäßig leicht auf den Inhalt der entsprechenden Leinwanddarbietung schließen konnte. Entweder ging es dabei um markante historische Ereignisse bezeichnende Jahreszahlen oder um aus der Literatur geläufige, ebenfalls zeitbestimmende Ziffern. „1789” zum Beispiel wies auf den Beginn der Französischen Revolution (Sturm auf die Bastille, der auch einen Titel „14. 7.” inspirierte), „1793” auf einen Roman von Victor Hugo, „1913” auf eine Komödie von Stemheim hin usw.

IN DER FOLGE begegneten Titel wie „1914” (Ausbruch des ersten Weltkrieges), „1917” (Russische Revolution) und andere, die frühere Geschehnisse betrafen, so etwa „1848” (revolutionäre Umwälzungen in Frankreich, Deutschland, Österreich) oder „1860” („Risorgimento”, italienische Einigungsbewegung). Die Sachverhalte waren für diejenigen, die einigermaßen Bescheid wußten, ziemlich klar. Erst nach dem letzten Krieg erschienen als Ziffern verwendete Bezeichnungen, aus denen nicht sogleich erhellte, worum es sich eigentlich handelte. Da gab es beispielsweise in Schweden eine Filmserie „91”, die — zuweilen freilich mit ergänzenden Untertiteln — Militärpossen umfaßte. Die von Paul May 1954/55 in der Bundesrepublik nach den Kirstschen Romanen gefertigte Trilogie „08/15” (ein militärischer Fachausdruck, der sich auf das Jahr der Einführung von Waffen und Geräten bezieht) konnte, was die Bedeutung dieser Zahlengruppe angeht, zunächst nicht von allen Interessierten, zumal den ausländischen, begriffen werden. Daß sich hinter dem 1956 durch Michael Andersons Verbildlichung auch filmisch bekannt gewordenen Titel „1984” eine Utopie, eine schauderhafte Zukunftsvision des Briten George Orwell verbarg, war dem Publikum anfänglich so wenig vertraut wie, um ein neueres Beispiel zu nennen, die Ziffer in Fellinis „8lh”, die nichts anderes als die Werkszahl bezeichnet — ursprünglich jene journalistische Erfindung, die der Regisseur dann übernahm.

ZU ALLEN FILMZEITEN finden sich Zahlen als Titelbestandteile — so etwa in Verbindung mit Städtenamen („Paris 1900”), Straßenbezeichnungen („13, rue Madeleine”, mehrere New Yorker Straßen wie zum Beispiel die 42. oder die 92.), Autobussen („H 8”), Lokomotiven oder Zügen („Pacific 231”, „Durchbruch Lok 234”), militärische Einheiten („Schwadron 992”), Telephonnummern („Northside 777”), Aktenzeichen („Matrikel 217”), Paragraphen („§ 51”, „§ 218”) usw. Man konnte sich darunter ungefähr etwas vorstellen, wenn zum vollen Verständnis hin und wieder auch Spezialkenntnisse — etwa juristischer Art — erforderlich waren.

NEUERLICH ABER findet man Zahlentitel ohne jeden Zusatz, die für den Laien so gut wie unverständlich sind. Siehe „114”, siehe auch „491”. Um diese seltsamen Ziffern zu erklären, bedarf es schon detaillierter Hinweise. Im ersten Falle handelt es sich (wer nur soll das wissen?) um den letzten Artikel der griechischen Verfassung vom 1. Januar 1952. Er macht zumindest theoretisch jeden Hellenen zum Hüter seines Grundgesetzes und spielt in der gegenwärtigen Politik des Landes eine große Rolle. Ist das, weiß man eben nur die Quelle, noch relativ einfach, so bereitet der zweite Fall ungleich größere Schwierigkeiten. Grundlage dieses Titels ist das Matthäus-Evangelium 18, 21 und 22. Hier steht: „Da trat Petrus hinzu und sagte zu Ihm: ,Herr, wie oft soll ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt? Bis siebenmal?” Jesus sprach zu ihm: ,Jch sage dir: Nicht bis siebenmal, sondern bis siebzigmal siebenmal” Das wäre also 490mal. Aber was bedeutet 491mal? Nun, nach Auffassung von Autor und Regisseur des Films „491” kann bei der von ihnen geschilderten, die von Christus gesetzte Toleranzgrenze weit überschreitenden Sündhaftigkeit nicht mehr vergeben werden. Übrigens wurde vor zwei Jahren in Cannes Leopoldo Torre Nilssons Dirnenfilm „Siebzigmal siebenmal” gezeigt — in diesem Falle mit Vergebung, wie schon aus dem Titel zu ersehen ist.

BEINAHE HÄTTE KIRK DOUGLAS, wie er unlängst in Rom erklärte, den von ihm produzierten Film „Sieben Tage im Mai”, der von einer künftigen Verschwörung des Washingtoner Pentagons gegen den US-Präsidenten handelt, ebenfalls nur mit einer Zahl, und zwar mit „1974” benannt. Er behielt jedoch schließlich den Titel der Romanvorlage von Knebel/Bailey bei. Und tat gut daran. Filmbezeichnungen müssen zwar kurz und bündig sein; aber darunter darf ein anderes Postulat, die Forderung nach Verständlichkeit, nicht leiden. Bedauerlicherweise geschieht das vielfach bei den seit einiger Zeit gebrauchten Zahlentiteln. Man sollte sich ihre Verwendung daher reiflich überlegen.

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