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Zwischen den Stühlen

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Sehr geehrter Herr Herausgeber!

Gestatten Sie mir, Ihnen von einem menschlichen Schicksal zu berichten, dessen Zeuge ich aus nächster Nähe gewesen bin. Täglich, stündlich laufen wir an Problemen vorüber, die früher ganze Sturzbäche von Reaktionen ausgelöst hätten. Was bedeuten sie uns heute noch, in der allgemeinen Zwickmühle dramatischen Eigenbaues? Nichts? Mindestens ein Aufschrei des Gewissens gehört in die „Furch e“!

Ein junger Österreicher, Wiener von Geburt, Sohn eines hohen österreichischen Offiziers, Enkel eines rein österreichischen Staatsbeamten, promoviert 1903 zum Doktor der Rechte. Der Familientradition entsprechend, soll und will er Staatsbeamter werden. Seiner Bewerbung gibt man statt; er wird zur Probepraxis im staatlichen Verwaltungsdienst in einem Kronlande zugelassen, das später zur Tschechoslowakei fällt. Der junge Mann beginnt, auf der Beamtenleiter zu klettern. Nicht verwunderlich, daß er es dort tut, wo man ihn hinbeordert — in Österreichisch-Schlesien. Er heiratet, avanciert, wird — hervorragend beurteilt und ausgezeichnet — mit 36 Jahren bereits Bezirkshauptmann. Urlaube verbringt er in seiner Heimatstadt Wien bei Freunden und Verwandten und kehrt — warum auch nicht? — immer wieder an seinen Dienstort zurück.

Spannend wird es im Jahre 1918. — Vorübergehend erscheint Österreichisch-Schlesien im Kleide einer deutsch-österreichischen Provinz mit Namen Sudetenland. Der deutsch-österreichische Landesverweser des Sudetenlandes erteilt nach Besetzung des Landes durch die Tschechen den Beamten der politischen Behörden den Befehl, den Eid auf die tschechoslowakische Verfassung abzulegen, damit einerseits der deutschsprachigen Bevölkerung des Sudetenlandes ihre eigenen Beamten erhalten bleiben, andererseits Deutsch-Österreich nicht plötzlich durch eine übergroße Zahl ausge

wiesener, zurückgekehrter, subsistenzloser Beamter belastet werde. Datum: 19. Dezember 1918. Und Folge des historisch interessanten Telegramms: „Der militärischen Gewalt weichend, hat die Landesregierung die Amtsgeschäfte der tschechoslowakischen Regierung übergeben Sie versichert den Beamten, daß ihnen aus der Leistung der Angelobung (der tschechoslowakischen Republik gegenüber) für den deutsch-österreichischen Staatsdienst kein Nachteil erwachsen wird. — Unterschrift. Aufgabezeit: 18. 12. 1918, 6 Uhr 40 Minuten."

Dies ist er der Angelpunkt. Und hier quietscht es im Gelenk.

Vorerst wird unser „ehemaliger" Österreicher, indem er; entsprechend der Anweisung, den Eid leistet, seines Zeichens Bezirkshauptmann — Tschechoslowake. 1938 pensioniert man ihn, den mehrfachen Ehrenbürger innerhalb „seines" Bezirks, sechs Jahre zu früh. Begründung: Antinazistische Einstellung. Mittlerweile ist er 59 Jahre alt. — Erst zahlen die Tschechen, danach die Deutschen die Pension. Sie tun es bis April 1945.

1945 Das offizielle Deutschland liegt vor den Alliierten auf dem Rücken, das offizielle Österreich auf den Knien, die offizielle Tschechoslowakei auf dem Bauch. Die blutige Deutschenverfolgung, die Kollektivverfolgung aller Deutschsprechenden, kann man in diesem Zusammenhang nicht so rasch vergessen.

Unser Ex-Erzösterreicher, der sich selbstverständlich sofort nach seiner Pensionierung wieder in seiner Vaterstadt Wien niedergelassen hatte, bleibt davon unbehelligt. Er ist nur plötzlich kein Deutscher mehr, Österreicher auch nicht, Tscheche schon gar nicht, dafür aber Staaten- und mittellos. Übrigens auch kinderlos, was hinsichtlich der „Altersversorgung“ bemerkt zu werden verdient. Ungeachtet seines Alters (66) beginnt er „von vorn“. Als Vertreter gelingt es ihm, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In einem erschütternden

Gesuch bittet er um die Verleihung — der österreichischen Staatsbürgerschaft. Schließlich gewährt man sie ihm. Auf die Pension muß er verzichten; denn er ist nicht österreichischer Staatsbeamter gewesen, sondern tschechoslowakischer (Zwischenfrage: Wie nennt man das, was er von 1904 bis 1918 gewesen ist?) Und die Versicherung seines Landesverwesers aus dem Jahre 1918, daß ihm kein Nachteil erwachsen werde, zumal da er sich seinerzeit für „seine“ Bevölkerung faktisch aufgeopfert hat, liegt fast dreißig Jahre zurück, also eine kleine, mit einer Kollektion Ausreden bespickte Ewigkeit.

Man kann nix machen. Und da beginnt ja die Tragik.

Mittlerweile stellt sich ein schweres Kehlkopfleiden ein, das dem Bezirkshauptmann a. D. beziehungsweise i. R., jedenfalls aber o. R., nämlich „ohne Ruhegenüsse“, neuerdings Vertreter, das Sprechen zur Qual macht. Pech! Weiß Gott! Aber das ist doch noch nicht alles. Er ist inzwischen 73. Seine Frau ist schwer leidend und für größere Arbeiten unverwendbar. Für Heimarbeit jedenfalls kommt sie aus gesundheitlichen Rücksichten nicht in Betracht.

Nächster Absatz: Ein Gesuch um Gnadenpension wird abgewiesen, freundlich, herzlich bedauernd, mündlich und mit der Erläuterung versehen, der Antragsteller sei — noch nicht alt genug; es fehlten noch zwei Jährchen. Mit 75 könne er damit rechnen, „etwas“ zu bekommen, vorausgesetzt, daß er keinerlei Erwerb nachgehe und garantiert ohne jedes anderweitiges Einkommen sei. Der Zufall will es, daß seine Frau nun operiert werden muß. Nicht schlimm. Niere. Der Mensch hat ohnedies zwei. Und der Beamte, wohlgemerkt: der verdiente Beamte, der nota bene sein Leben lang auf die „großen" Einkünfte verzichtet, um dafür ein gesichertes Alter zu haben, sitzt, man darf wohl sagen: Mit einem Krach und absolut schuldlos, zwischen zwei Stühlen.

Das ist endlich alles. Und es ist ja im Vergleich mit anderen dramatischen Situationen nicht viel. Aber es belastet unsere planende Voraussicht, die sogenannte menschliche Ordnung mit einer großen Hypothek!

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