"Mach was, sonst bist du tot!“

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Paul sucht als Teenager Geborgenheit und findet in Heroin eine Wärme, die er niemals kannte. Mit der Droge spritzt er sich eine Illusion des Himmels - bis er in der Hölle erwacht.

Wenn Paul im Wiener Szenelokal "Tunnel“ seinen Mittagskaffee trinkt, fällt er allenfalls durch sein attraktives Äußeres auf. Seit zwei Jahren arbeitet der 27-jährige Niederösterreicher als Model. Auf seinen sportlichen, unversehrten Armen zeugt nichts mehr davon, dass er einmal ein Junkie war.

Mit 16 ist Paul nach außen hin ein gewöhnlicher Jugendlicher: Er raucht seine ersten Zigaretten und trinkt am Wochenende Alkohol. Während seiner Lehrzeit im Baugewerbe zieht er bei seiner Mutter aus und nimmt sich eine Wohnung, denn die Beziehung zu den geschiedenen Eltern gestaltet sich kompliziert. Mit 17 fängt er an, auf illegalen Partys Musik aufzulegen. Die Hemmschwelle gegenüber Drogen schwindet, als er zunächst gelegentlich, dann wöchentlich Ecstasy einwirft: "Im Freundeskreis war das normal. Man sucht sich ja auch Leute, mit denen man’s tun kann.“ Seine Teenagerjahre hat Paul trotzdem in schöner Erinnerung.

Dass innerhalb der nächsten vier Jahre alle Lebendigkeit aus seinem Leben weichen wird, ahnt Paul noch nicht. Im Gegenteil: Nachdem er mit 19 zum ersten Mal Heroin schnupft, bleibt er ein Jahr bei dem braunen Pulver mit dem höchsten Abhängigkeitspotenzial überhaupt. 2005 lässt er sich von einem Freund zum ersten Mal eine Nadel setzen, weil die intravenöse Verabreichung im Gegensatz zum Sniefen einen Kick verursacht und die Rauscherfahrung viel intensiver sein soll. Mit dem Stoff steigt in Paul ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit auf, das er nicht mehr missen möchte.

"Du bist nicht krank. Du hast einen Entzug.“

Die Quittung kommt erst in den nächsten Tagen: Paul wird krank, hat überall Schmerzen und Schüttelfrost. Sein Freund weiß es besser: "Du bist nicht krank. Du hast einen Entzug.“ Den hat Paul vom Sniefen bisher nicht gekannt. Er bleibt von der Arbeit zu Hause, ohne es zu melden, weil er nicht zum Arzt will - und wird prompt vom Chef gekündigt. Ab da spritzt er weiter. "Ich hatte am Anfang totalen Respekt vor Heroin, aber irgendwann war es schon wurscht, welches Zeug ich mir reinhaue“, erinnert er sich. "Ich wollte nur mehr meine Gefühle betäuben und in meiner Welt sein. Zumachen.“

Im Rausch träumt Paul von intensiv-schönen Bildern wie etwa von einem Himmel, dessen Wolken immer größer werden. Er fühlt ein befreiendes Fallen, eine Ohnmacht, völlige Zufriedenheit. Er fühlt, dass etwas da ist, das ihn kontrolliert und beschützt.

Pauls Eltern hegen in der Zwischenzeit den Verdacht, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmt und stehen eines Tages vor seiner Tür. Ihnen gegenüber will Paul normal wirken, doch er hat sich zehn Minuten zuvor erst eine Nadel gesetzt. Ihm wird schwindelig, er setzt sich auf den Boden - und übergibt sich. Als ihn die Eltern ins Spital zerren wollen, beschimpft Paul sie wüst. Von da an sieht er sie lange Zeit nicht mehr. Dem damals 20-Jährigen ist das nur recht: "Plötzlich war eine Routine da. Drogen aufstellen gehen, verkaufen, reinhauen.“ Am Anfang spritzt er sich alle sechs bis zwölf Stunden Heroin, später alle drei bis vier Stunden. Für seine rund vier Gramm Heroin bezahlt er 240 bis 350 Euro täglich. Mit dem Dealen verschiedener Drogen kann er sich das gerade leisten, zum Leben bleibt nicht viel.

Heroin frisst immer größere Löcher in Pauls Leben: Die Droge frisst Freunde, weil niemand etwas mit Heroin zu tun haben möchte. Sie verschlingt den Kontakt zur Familie, körperliche Gesundheit und Geld - am Ende hat er nicht einmal mehr eine Wohnung. Am meisten frisst sie Zeit: "Man versäumt viel Entwicklung: im Job, im Aufbauen von Beziehungen, in der Persönlichkeitsreifung.“ Neun Monate nach dem ersten Schuss spuckt die Droge nur mehr die Überreste einer Existenz hervor, deren letzte Einsicht ist: "Mach was, sonst bist du tot.“

Trotz extremen Leidensdrucks scheitern erste Entzugsversuche, doch Paul hat ein Vorbild: Ein Freund, der mit ihm "drauf“ gewesen ist, beginnt gerade nach einer erfolgreichen Therapie, die HTL-Matura nachzumachen. So beweist Paul doch eisernen Willen und meldet sich für eine anderthalbjährige Therapie bei der Rehabilitationsinstitution "Grüner Kreis“ an - und startet davor einen kalten Entzug ohne Medikamente. "Das war runterkrachen von 100 auf null. Ich hatte fünf Tage Halluzinationen und Krämpfe am ganzen Körper. Mir sind die Tränen runtergeronnen, aber ich wollte durchhalten.“

Und tatsächlich: Paul hält durch und zieht beim "Grünen Kreis“ für die nächsten anderthalb Jahre ein. Dort versorgt er den institutionseigenen Bauernhof und übernimmt als Küchenchef die komplette Essensorganisation. Die wichtigste Einsicht der Therapie? "Alles, was ich tue, hat Konsequenzen.“ Mit einem geregelten Tagesablauf, Einzel- und Gruppentherapiestunden schafft Paul es am Ende sogar selbst zum Betreuer.

Schwieriger Weg zurück ins Leben

Selbstdisziplin und Lebenswille verändern sein Leben: Seinen Kick holt er sich fortan mit Volleyball und Laufen. Nicht nur das Heroin fasst er bis dato nicht an, zwei Jahre gönnt er sich auch keinen Tropfen Alkohol. Die Angst vor einem Rückfall schmälert das nicht: "Ich habe jeden Tag Angst davor, gerade wenn ich depressiv bin und mir Dinge im Alltag misslingen. Aber ich weiß jetzt, dass ich diese Gefühle aushalten kann.“ Nach dem Modeln will Paul gerne studieren. Dass nicht viele den Weg zurück ins Leben schaffen, weiß er: "Ich habe in der Therapie Autobusladungen an Menschen kommen und gehen gesehen.“ Sein Vorbild, der Freund mit dem nachgeholten HTL-Abschluss, hängt heute wieder an der Nadel.

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