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Der Rest der Blumenkinder

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Mehr als zehntausend Jugendliche in Europa haben nach Meinung der Rauschgiftexperten keine Chance mehr, jemals wieder in ein normales Leben zurückzukehren. Die Droge hat sie bereits dermaßen zerstört, daß der Staat sie als „Frührentner“ behandeln muß.

Die Sucht nach dem bewußtseins- erweitemden „Stoff“ beschränkt sich nicht mehr allein auf die Hippie- und Gammlerzentren in den schmutzigen Slums und im dunklen Untergrund der Großstädte. Das Verlangen nach einem „Trip“ oder „Joint“ hat auch die Jugendlichen auf dem Land er-

griffen: jeden Tag eine.Reise in eine rosarote Traumwelt, jeden Tag ein Stückchen Tod, lautet die Devise eines Teiles der Jugend, der im Drogengenuß eine Rettung vor der erdrückenden Situation ihrer Gegenwart sucht…

Der „Flucht“ ins künstlich erweiterte Bewußtsein mit Hilfe injizierter Träume oder geschluckter Inspi-

rationen verschreiben sich auch imiper mehr junge Österreicher: Wurden beispielsweise noch 1966 nur fünf Jugendliche wegen Drogenmißbrauchs verurteilt, waren es 1970 bereits 205 Personen. Und seither sind die Zahlen beängstigend angestiegen. Die Donau-Alpenrepublik hat sich überhaupt zu einem beliebten Umschlagplatz für Drogen entwickelt.

Allein in der Weinbauidylle des oststeirischen Hügellandes zwischen Gleisdorf und Fürstenfeld orteten Beamte des Grazer Rauschgiftdezernates ein exklusives Rauschgiftnest für 200 flügge Drogenjünger. Und bei einer anonymen Frageaktion unter 4000 Grazer Schülern Allgemeinbildender Höherer Schulen gaben immerhin 15 Prozent der Befragten an, wenigstens einmal mit Rauschgift in Kontakt gekommen zu sein.

Dabei fing alles so harmlos an. Denn als Antwort auf die frenetische Anbetung des „Goldenen Kalbes“ des Konsumzeitalters formierten sich vor allein in den USA, dem Lande mit dem höchsten Lebensstandard, Protestbewegungen verschiedenster Provenienz. Ihnen allein gemeinsam ist die deutliche Fluchttendenz aus der industriellen Massenzivilisation, in der sich die Jugend nicht mehr zu Hause fühlt, weil Macht und Konsum im bürgerlich- biederen Einreiher zur obersten Lebensform geworden sind.

Einer vielversprechenden Flucht in ein buntes Drogenparadies verschrieben sich die einen, aus dem es bereits für zu viele nur mehr ein böses, tödliches Erwachen gab, ein endgültiges Zerbrechen an der grausamen Wirklichkeit einer pervertierten Leistungsgesellschaft, in der es für Nonkonformisten, die als passive und unproduktive Frührentner dem Vater Staat in der Tasche liegen wollen, keinen Platz gibt.

Einer diffus-elektizistischen, oft verstandenen Mystik östlicher Prägung und der Geschäftstüchtigkeit routinierter Gurus verschrieben sich andere. Aber auch für sie schien die Flucht in die innere Emigration der vermeintlich einzige Ausweg aus den Netzen von Lebensstandard und den täglichen Gymnastikübungen um das liebe Geld zu sein.

Von der Gesellschaft belächelt, einer freiwilligen Armut huldigend, wurde diese romantische Bewegung aber nicht nur zum Refugium für alle jene „Typen“, denen die moderne und hochtechnisierte Leistungsgesellschaft das Rückgrat ge-

brochen hatte, sondern auch ein Sammelbecken für gefährliche kriminelle Elemente, die aus harmlosen „Blumenkindern“ fanatische Vollstrecker obskurer Teufedskulte machten und mit dem gräßlichen Ritualmord an Sharon Täte ein Zeitalter okkulter Umtriebe ins Leben riefen.

Die Bewegungen der friedliebenden „Blumenkinder“ und des immer größer Werdenden Heers der „Kinder Gottes“ hatten sich totgelaufen und waren in den teuflischen Sackgassen von Drogenkultur und Kriminalität gelandet. Ein Timothy Leary, der sich mittlerweile als gut getarnter Public-Relations-Agent eines weltweiten Rauschgiftringes entpuppte, und der sich mit Gandhi und Jesus verglich und sogar für staatlich sanktionierte „Reisen nach innen“ plädierte, war einer der angebeteten Propheten der schillernden LSD- Kultur. Nun kann Drogengenuß ohne weiteres als scheinreligiöse „Ersatzhandlung“ interpretiert werden. Und jeder, der einmal auf einem LSD- Trip war, weiß, was für eine enorme seelische Sprengkraft hinter dieser bewußtseinserweitemden Droge steckt.

Schon vor etwa fünf Jahren wurden aber mitten in die überschwappenden Bewegungen neue Akzente gesetzt. In den einzelnen Hippiegruppen fand eine neue Gestalt neben Gandhi und Buddha Eingang: Jesus von Nazareth wurde das neue

Idol einer vaterlosen Gesellschaft. Und dieser neuentdeckte Jesus konnte geradezu im Sturm die resignierende Jugend erobern, die an ihrem selbstgeschriebenen Evangelium schon wieder irre geworden war.

Diese neue Form der Auflehnung gegen die Auswüchse der Produk- tions- und Konsumationsmaschinerie der westlichen Welt war aber wiederum nur eine oberflächliche Ersatzreligion, die sich von der Kirche als Institution lossagte und in einer wenig differenzierten Weise einer simplen und eher neurotischen Frömmigkeit das Wort redete. Und was Theologen, Soziologen, Ärzte und Psychologen anfangs noch durchaus positiv an der „neuen Bewegung“ erschien, ging leider schon sehr bald in einer verwaschenen Religiosität, kindlicher Buchstabengläubigkeit und vor allem der weltweiten Kommerzialisierung des „Jesusgeschäf- tes“ auf…

So sehen Psychiater im geradezu unheimlichen Teufelskreis Wohlstandsgesellschaft-Drogenabhängigkeit einen Zusammenhang, der dem unbeteiligten Laien fürs erste meist entgeht.

Die erdrückende Fülle an Konsumgütern, das verwirrende Medienüberangebot, Sex am Fließband als Statussymbol und der Streß in Beruf und Freizeit zehren bedrohlich an den Nerven und an der Gesundheit der Heranwachsenden.

Doch die beinharte Realität gerinnt oft zu banaler Lächerlichkeit, wenn etwa staatliche Stellen mit vollmundigem Pathos und flammenden Appellen die gefährdete Jugend anflehen, „doch um Himmels willen nicht mit Haschisch und LSD in eine

ScheinWirklichkeit zu flüchten“, wenn anderseits nur allzu gut bekannt ist, daß die Zahl der von Alkohol zerstörten Jugendlichen wesentlich höher ist als die Zahl der Heroin- und Pharmakaopfer. Nicht vergebens steht auch Österreich ziemlich weit oben auf der geradezu unheimlichen Pyramide von Trinkern und Alkoholikern.

Damit soll keineswegs der Drogenkonsum verteidigt werden: es sollte aber auch auf die halbherzigen Lippenbekenntnisse der Öffentlichkeit gegen andere Suchtmittel wie Alkohol und Nikotin und die gefährlichen Gifte der Pharmaindustrie hingewiesen werden. Schneidet sich doch Vater Staat millionenschwere Happen an Steuern und Abgaben vom gewinnträchtigen Milliardenkuchen des Alkohol- und Nikotinkonsums ab.

Vom vordergründigen Aspekt der politischen Ökonomie des „illegalen“ Drogenhandels her gesehen, sticht nicht vergeblich meist zu allererst die lächerliche Anklage wegen des „Vergehens nach dem Finanzstrafgesetz“ ins Auge —, mit der solche Delikte abgeurteiit werden.

Von den bedauernswerten Opfern ist dann fast nur in Fußnoten des Prozeßberichtes und in Statistiken von Anstalten die Rede: ein bißchen moralische Entrüstung zum Drüberstreuen, ansonsten aber die Ausrede, daß Bund und Ländern die materiellen Mittel fehlen, um in Österreich Maßnahmen zu ergreifen.

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