"Immer Angst vor einer Schularbeit“

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Sein Perfektionismus hat Josef erfolgreich gemacht, doch er selbst ist an seinen Versagensängsten fast zerbrochen. Über das Funktionieren dank Psychopharmaka, den "Aus- und Abstieg“ als vermeintlich letzte Option - und die langsamen Schritte zurück ins Leben.

"Da draußen ist es passiert“, sagt Josef. Ruhig steht er vor der Balkontür, den Blick in die Weite, die Hand auf eine Krücke gestützt. Er hat kein Problem damit, zu erzählen, was sich da draußen zugetragen hat. Und er hat auch keine Scheu, hinunterzublicken. Auf der Straße zehn Meter unter ihm ist er im März 2009 aufgeprallt; die Nachbarin im zweiten Stock hat ihn noch vorbeifliegen sehen. "Sie selbst ist auch schon einmal wo hinuntergefallen“, sagt Josef. "Das ist schon witzig.“

Der bald 57-Jährige sagt nicht Suizidversuch, wenn er von damals erzählt; er spricht von seinem "Aus- und Abstieg“, einem verzweifelten Schritt, um der Angstspirale zu entkommen. Was immer er tat, es schien nie zu reichen; wie sehr er sich auch anstrengte, es schien nie zu genügen. Bei seinen Kunden und Chefs galt er stets als Perfektionist. Doch ihn selbst hat die Angst, dass er einmal versagen könnte, krank gemacht.

Rechtzeitig nein sagen

"Manchmal vergleiche ich mich mit Robert Enke“, erzählt er in seiner kleinen Wiener Wohnung. Der Torwart der deutschen Nationalmannschaft hat sich im November 2009 mit 32 Jahren das Leben genommen. Nur wenige hatten von seinen Depressionen gewusst, von seiner Angst, beim Elfmeter ins falsche Eck zu springen. "Enke hat offenbar nicht die Kraft gehabt, rechzeitig zu sagen:, Ich kann das nicht mehr. Punkt‘“, glaubt Josef. Auch ihm selbst habe damals die Stärke gefehlt, um endlich "Nein“ zu sagen zu seinem überfordernden Beruf. "Doch ich bin eben nicht sehr selbstsicher“, sagt er und geht langsam zur Couch. "Das zieht sich seit meiner Kindheit durch mein Leben.“

Als Josef 1955 als jüngstes von elf Geschwistern geboren wird, ist seine Mutter bereits 50 Jahre alt. Sieben Jahre später stirbt der Vater, ein gebürtiger Südtiroler, der 1942 als "Optant“ nach Mähren ausgewandert ist, von dort nach Kriegsende vertrieben wurde und sich schließlich mit Kind und Kegel nahe Steyr niedergelassen hat. Der 16 Jahre ältere Bruder, der nach dem Tod des Vaters in die Erzieherrolle schlüpft, schikaniert den Nachzügler mit drakonischen Strafen. Auch in der Schule fühlt sich der Bub ungerecht behandelt. Nur beim Posaunenspiel, das ihn der Dorfpfarrer lehrt, und beim Experimentieren findet er sein Glück.

Mit 14 baut Josef seine ersten Detektoren-Empfänger. Kurz darauf kommt er an die HTL für Rundfunk- und Hochfrequenztechnik und schließlich 1975 zu einem internationalen Elektronikkonzern. Hier erlebt er die Umwälzungen in der IT-Branche hautnah mit: vom ersten Personalcomputer bis zum Siegeszug einer deutschen Anwendungssoftware. Doch die ständigen Neuerungen haben ihren Preis: Regelmäßig muss Josef Zertifizierungskurse absolvieren, um up to date zu bleiben. "Ich bin immer hinten nachgerannt“, erinnert er sich. "Ich hatte immer das Gefühl wie vor einer Schularbeit.“

Es ist das Jahr 1989, als er wegen seiner Ängste und Schlafprobleme erstmals zu Psychopharmaka greift. Fast 20 Jahre bleibt das sein Geheimnis; erst 2008, als es nach zwei anstrengenden Zertifizierungen immer stärker in ihm brodelt, erzählt er seinem Chef davon. "Der hat damals vorbildlich reagiert“, rekapituliert Josef. Noch am selben Tag vereinbart der Betriebsarzt einen Termin bei einem Neurologen, sechs Wochen später bekommt er einen Platz in einer psychosomatischen Klinik. Als er nach vielen Wochen Urlaub an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt, nimmt ihn die Firma aus dem laufenden Betrieb, damit er sich auf den vorgeschriebenen Ausbildungsplan konzentrieren kann. Doch für Josef ist auch das zu viel: An einem Wochenende im März 2009 ruft er seinen Psychiater an, um ihm zu sagen, dass es ihm gut gehe. Zwei Stunden später geht er auf den Balkon.

In kleinen Schritten Richtung Zukunft

Dass Josef den Sturz überlebt, ist ein Wunder: Fersenbeine, Oberschenkelhals, Becken und Kiefer sind gebrochen, dazu ein Schädel-Hirn-Trauma und Blutungen im Bauch. "Die haben einiges zu tun gehabt“, sagt der 57-Jährige lächelnd. Bis Ende Juli liegt er im Krankenhaus, anschließend kommt er zur Rehabilitation auf den "Weißen Hof“, wo er sich endlich daheim und verstanden fühlt. Die zwei Schutzengel, die ihm Freunde dort aufs Nachtkästchen stellen, stehen inzwischen in seinem Wohnzimmer.

Heute geht es ihm gut. "Die große Last dieses Berufs ist weg“, sagt Josef selbst. "Aber ich bin halt sehr langsam geworden und werde schnell müde.“ Seine Firma versorgt ihn mit einem kleinen Gehalt, bis er in die Frühpension wechseln darf. Und dank schmerzstillender Mittel und Psychopharmaka schafft er es, den Alltag zu bewältigen.

Seine Lebensgefährtin unterstützt ihn dabei so gut sie nur kann - auch bei der geistigen Rehabilitation: Ende Dezember, kurz vor dem Tod seines Bruders, kam es noch zur versöhnlichen Aussprache. Und mit Hilfe eines Englischkurses sowie seines Engagements als Posaunist in einer Bigband blickt Josef langsam Richtung Zukunft: "Das Mitspielen in dieser Band versinnbildlicht irgendwie das Leben“, sagt er lächelnd. "Und ich möchte wieder dabei sein.“

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