Der Beginn des christlichen Abendlandes

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"Kunst und Kultur der Karolingerzeit" - eine umfassende Schau in Paderborn.

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"Kunst und Kultur der Karolingerzeit" - eine umfassende Schau in Paderborn.

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Die historische Gestalt Karl der Große habe heute "eine geradezu zentrale Bedeutung für die Europa-Idee erhalten", schreibt das Nachschlagewerk "Die Kaiser - 1200 Jahre europäischer Geschichte", das 1996 im Verlag Styria erschienen ist. In der Tat gilt Karl der Große, der Charlemagne der Franzosen, König der Franken und Langobarden, Patricius der Römer, der am 25. Dezember 800 von Papst Leo III. in St. Peter in Rom zum Kaiser gekrönt wurde, vielen Historikern als der Begründer des christlichen Abendlandes. Er wird von der französischen ebenso wie von der deutschen Geschichtsschreibung als einer der "ihren" betrachtet: sein Reich umfaßte Europa von den Pyrenäen bis zur Elbe, vom Atlantik bis zur Enns und von der Elder bis nach Mittelitalien.

Nach der Europaratsausstellung von 1965 in Aachen ("Karl der Große - Werk und Wirkung") steht die europäische Herrscherfigur Carolus Magnus derzeit wieder im Mittelpunkt einer großen kunst- und kulturgeschichtlichen Ausstellung in Nordrhein-Westfalen. Bis 1. November sind in einer umfassenden Schau "Kunst und Kultur der Karolingerzeit" in Paderborn zu sehen. Dortselbst trafen sich vor nunmehr 1200 Jahren, im Sommer 799, der Frankenkönig und Papst Leo III., der wenige Wochen zuvor, am 25. April jenes Jahres, während einer Bittprozession in Rom von seinen Gegnern überfallen, schwer mißhandelt und eingesperrt worden war. Nach seiner Flucht suchte er Karl in dessen prächtig ausgestatteter Pfalz Paderborn auf, um sich der Unterstützung des mächtigen Herrschers zu versichern - aus Byzanz konnte das römische Papsttum keine Hilfe mehr erwarten.

Karl stand am Ende des 8. Jahrhunderts zweifellos am Höhepunkt seiner Macht und seines Ansehens: In einem der Beiträge des dreibändigen Kataloges zur Ausstellung in Paderborn heißt es dazu: "In zahlreichen Kriegszügen und durch ein unermüdliches organisatorisches Wirken zur Stabilisierung seines weiträumigen Herrschaftsgebildes nach innen hatte der König das fränkische Großreich, vermehrt hauptsächlich um das sächsische Stammesgebiet östlich des Rheins, unter Angliederung des italienischen Langobardenreiches zur bestimmenden Macht im westlichen Europa gemacht ... Der größte Teil der lateinischen Christenheit stand unter seiner Herrschaft, aber auch zu den christlichen Reichen auf der britischen und irischen Insel sowie auf der unter islamischer Hegemonie stehenden Iberischen Halbinsel gab es rege Kontakte, und schließlich unterstellten sich sowohl der Patriarch von Jerusalem als auch die Bewohner der Balearen seinem Schutz."

Drei Monate lang, von Juli bis Oktober 799 verhandelte Karl mit seinem Gast. Das aufstrebende fränkische Reich und das römische Papsttum bereiteten ein Bündnis vor, das am Christtag des folgenden Jahres mit der Kaiserkrönung im Petersdom besiegelt wurde. Mit der Einsetzung des westlichen Kaisertums war jene Verbindung zwischen Kaisertum und Papsttum hergestellt, die für die beiden Gewalten über Jahrhunderte zum Schicksal werden sollte. Die Wiedererrichtung des westlichen Kaisertumes belebte aber auch die imperiale Tradition der Spätantike neu. Regnum beziehungsweise Imperium, also die kaiserliche Macht einerseits und Sazerdotium, die geistliche Macht des Papstes andererseits, traten in ein enges Verhältnis, das sich in den nächsten Jahrhunderten spannungsreich entfaltete.

Die Begegnung von 799 veränderte die politische und geistige Landschaft des damaligen Europa. In der Regierungszeit Karl des Großen erfolgte der Brückenschlag zwischen der römischen Antike und dem Mittelalter. Die Renovatio Imperii, die das Erbe der Antike mit dem Geist des Christentums durchdrang, prägte von da an die europäische Geschichte. Das Erbe der römischen Spätantike verband sich mit der Spiritualität des Christentums und mit der Dynamik des fränkischen Königtums. So wurde in dieser Zeit die abendländische Kultur geboren, die - ungeachtet aller Unterschiede, ungeachtet auch aller schweren Konflikte und blutigen Kriege - den europäischen Völkern über Jahrhunderte hinweg ein hohes Maß an geistiger, kultureller, religiöser und zivilisatorischer Gemeinsamkeit sicherte.

Die Ausstellung in Paderborn ist Teil des europäischen Verbundprojektes "Charlemagne - The Making of Europe", das die Karolingerzeit mit Ausstellungen auch in Spanien, Italien, Kroatien und England thematisiert: in Barcelona ("Catalunya Carolingia 785 - 987; 16. Dezember 1999 bis Februar 2000), in Brescia ("Il futuro dei Longobardi"; Juni bis November 2000), in Split ("Croats and Carolingians"; 25. Dezember 2000 bis 30. Mai 2001) und in York ("The Golden Age of York - Alcuin and Charlemagne"; April bis Oktober 2000).

In Paderborn werden "Kunst und Kultur der Karolingerzeit" mit Leihgaben aus 180 Sammlungen in Europa und den USA dokumentiert. Ein Prunkstück der Ausstellung stellt zweifellos das Lorscher Evangeliar dar, das um 810 als Handschrift der Hofschule Karls entstand und eines der bedeutendsten Kunstwerke der Zeit darstellt. Die Handschrift wurde im 15. Jahrhundert geteilt. Heute befinden sich der erste Teil in Alba Julia (Karlsburg) in Rumänien, der zweite Teil sowie die hintere Einbandtafel im Vatikan und die vordere Einbandtafel im Victoria & Albert Museum in London. Erstmals seit mehr als 30 Jahren wurden sie in Paderborn wieder auf Zeit zusammengeführt.

Einen weiteren Höhepunkt der Ausstellung bildet der frisch renovierte Sakopharg Karls des Großen, der sogenannte Proserpina Sakopharg, der Anfang des 3. Jahrhunderts in Rom aus Carrara-Marmor hergestellt wurde. Seine Frontseite zeigt in einem Relief mit dramatischer Wucht die Entführung der Tochter der Fruchbarkeitsgöttin Ceres durch den Unterweltsgott Pluto. Die Wiederverwendung des Sakopharges als Grablege Karls unterstreicht den bewußten Rückbezug des Herrschers auf die spätantike Kultur, ließ er sich doch auf diese Art wie ein antiker weströmischer Herrscher bestatten. Freilich nur auf Zeit. Heute ruhen seine Gebeine - von Friedrich II., dem Enkel Barbarossas, umgebettet - im 1215 fertiggestellten, romanischen Karlsschrein im Dom zu Aachen.

Aus dem Kunsthistorischen Museum aus Wien kam eine Elfenbeintafel aus dem späten 10. Jahrhundert nach Paderborn. Sie zeigt den heiligen Gregor mit drei Schreibern. Gregor wird offenbar von der Taube des Heiligen Geistes, die auf seiner Schulter sitzt und in sein Ohr gurrt, zu liturgischen Reformen - der Einführung des Gregorianischen Choralgesangs? - inspiriert.

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