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DICHTUNG AUS HEILLOSER ZEIT

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Im Wesentlichen bilden zwei voneinander grundverschiedene seelische Einstellungen zur Außen- und Innenwelt die Voraussetzung für lyrisches Schaffen, sofern man unter Dichtung jene aus dem Zeitlichen geborene, zeitlose Aussage versteht, die gleicherweise an der sichtbaren wie an der unsichtbaren Welt Anteil hat, dabei aber auch einen im Bereich des Geistes beheimateten Gedanken aufleuchten läßt. Aus all dem gewinnt die Sprache jenen Klanig, jene Melodie, die imstande ist, Geheimnissen nachzuspüren und den Alltag zu verzaubern. So paradox es auch anmuten mag, die beiden eingangs erwähnten seelischen Einstellungen des Dichters zu seiner Umwelt und seiner Innenwelt sind nicht nur grundverschieden, sie stehen zueinander sogar in schärfstem Gegensatz: eine ergibt sich aus dem Gefühl eines Geborgenseins, aus einer harmonischen Einstimmung des Menschen in seine Umgebung — also Stimmungslyrik und letzten Endes auch Idylle. Und dem gegenüber jener dichterische Rausch, der mit unbezwingbarer Macht den Sänger ergreift und ihn in einen Bannerträger einer Idee verwandelt. Worte stoßen dann ins Unsagbare vor und werfen grelles Licht über das Dunkel, in dem Dämonen hausen.

Aus beidem, aus dem Erfühlen des Geborgenseins, aber auch aus dem im Mitgefühl mit der leidenden Kreatur wurzelnden leidenschaftlichen Verlangen, in einer Epoche der Zwiespältigkeit und Zerrissenheit, an der Schwelle eines neuen Zeitalters die Würde des Menschen zu wahren, sind die Dichtungen Johann Gunerts geboren. — Gar manche seiner Generation, die man oft als die „verlorene“ bezeichnet, weil sie nicht nur den ersten Weltkrieg miterlebte, sondern auch dem Verhängnis des zweiten Weltkrieges preisgegeben war, vermochten nicht in den Wirren und Irrungen jener schicksalhaften Jahre ihre Eigenständigkeit zu bewahren. Aber Johann Gunert, dem Dichter, der aus Mähren, einer Kulturlandschaft Altösterreichs, stammt und in Wien beheimatet ist, reifte in diesen heillosen Jahren der Diktatur und des Krieges seine Begabung aus leidvollem Miterleben zu solch schöpferischer Kraft, daß schon bald nach 1945 seine Stimme über die Grenzen Österreichs hinaus Gehör fand.

Im Vordergrund von Gunerts Dichtungen steht immer der Mensch, der Mensch in allen nur erdenkbaren Situationen. Darum liegt dem Gesamtwerk des Dichters ein weitgespanntes geistiges Konzept zugrunde, das aus der wechselvollen Thematik der Gedichte offenbar wird. Und wer sich in die Gesänge Gunerts vertieft, dem entgeht es nicht, daß sich alle seine Dichtungen zu einer Weltumkreisung in höheren Bereichen zusammenschließen, wobei die äußere Erscheinungswelt Abbild oder Symbol der Seelenlandschaft im Inneren des Menschen ist, die gerade im Zeitalter der Weltraumfahrt mehr denn je der Erhellung bedarf, um im Geist der Versöhnung und opferbereiten Nächstenliebe die Dämonen des Hasses und der Zerstörung zu bannen. Dies gilt ebenso für die großen rhapsodischen Gesänge, so etwa für „Die Toten des Krieges“, „Die Schläfer“ und „Die Träumenden“, wie für die kürzeren Gedichte, die aus dem Ineinan-derspiel von Vision, geistigem und realem Erlebnis und intuitivem Mitempfinden eitstanden sind. Aus dem Gesamtwerk Gunerts verdient die Dichtung „Das Leben des Malers Vincent van Gogh“ besonders hervorgehoben zu werden, da sie eine in ihrer Art gelungene Synthese vom Bildinhalt mit dem seelischen Schaffenserlebnis und dem Leidensweg des Künstlers darstellt.

Das dichterische Schaffen Johann Gunerts fand im In- und Ausland die ihm gebührende Würdigung. So wurde Gunert nach der Zuerkennung des Österreichischen Staatspreises für Lyrik und des Preises der Stadt Wien im Vorjahr auch der Georg-Trakl-Preis verliehen. Anläßlich des 60. Geburtstages, den Johann Gunert am 9. Juni 1963 beging, gab Victor Suchy unter dem Titel „Kassandra lacht“ einen Auswahlband in der Stiasny-Bücherei heraus, der einen Uberblick über das Gesamtwerk des Dichters bietet. In seinem gehaltvollen Vorwort weist Suchy darauf hin, daß es die überzeitliche Aufgabe des Dichters ist, Stimme der Zeit zu sein und den harten Wirklichkeiten des Tages ins Gorgo-Antlitz zu blicken. „Am reinsten ertönt vielleicht die zeitenthobene Stimme des Dichters“, wie Suchy ausführt, „in seinem letzten Buch ,Inschrift tragend und Gebild'.“

Wird uns das irre Lachen Kassandras in dieser „unvorstellbaren Zeit“ der entfesselten Atomkräfte ewig in den Ohren gellen? Der Dichter beantwortet diese schicksalhafte Frage mit den Versen: „...Doch du kannst die Schmerzen übertönen / im Gesänge, der dir noch geblieben, / mit dem Heilswort, das einst aufgeschrieben.“

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