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Die vier Schätze des Gelehrten

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Zuweilen erweist sich die UNESCO als eine sehr nützliche Institution; nicht nur für einzelne Leute, sondern für die Allgemeinheit; oder zumindest für den Teil der Allgemeinheit, der an Dingen der Kunst Interesse und Freude hat. Zum Beispiel, wenn die UNESCO eine so prachtvolle Ausstellung veranstaltet wie die Wanderausstellung „2000 Jahre chinesische Malerei“, die jetzt — nach Linz! — auch nach W'ien gekommen ist und in der Akademie der bildenden Künste, Wien I, Schillerplatz 3, bei freiem Eintritt zu sehen ist. Gezeigt werden nicht Originale, sondern nur Reproduktionen, allerdings die vorzüglichsten, die wir kennen.

LIebėrhaupt sind die verschiedenen Initiativen der UNESCO in der Verbreitung der Kenntnis von den wesentlichsten Zeugnissen menschlichen Geistes, auf daß diese wirklich Allgemeinbesitz werden, höchst erfreulich. So hat sie unter anderem einen „UNESCO- Katalog der Farbreproduktionen“ herausgebracht, in dem die drucktechnisch besten farbigen Reproduktionen der Welt verzeichnet sind, die als solche in verschiedenen Zusammenstellungen ebenfalls um die Erde, reisen. Alle Drucke, die jetzt gezeigten nach chinesischen Bildern und die nach europäischen Gemälden, sind auch einzeln oder als Serien über die UNESCO zu erwerben. So wird der Gedanke des „Imaginären Museums“ in einer bestimmten Richtung in die Tat umgesetzt.

Die Tatsache, daß die gezeigten Reproduktionen chinesischer Malerei um vieles echter wirken als die westlicher Gemälde, liegt nicht zuletzt in den verwendeten Materialien und im Kunstprinzip des An- deutens und Aussparens begründet.

Dies sind die „vier Schätze des Gelehrten":. Papier, Pinsel, Tusche und Reibstein. Statt Papier wird häufig Seide, zuweilen auch Baumwoll- oder Hanfgewebe als Grundlage verwendet. Der Pinsel besteht aus einem

Bambusstab, an dessen einem Ende ein Büschel feiner Haare befestigt ist. Ein wenig Wasser wird auf den Reibstein getropft und darauf eine der farbigen Tuschestangen gerieben, die aus einer Mischung von Holzkohle oder Lampenruß und Gummi besteht.

Seide, Pinsel, Tusche und Reibstein: die vier Schätze des Gelehrten; für ihn, für den Künstler, für den Wissenden entsteht aus ihnen die Welt; für den Ahnungslosen sind es Materialien, mit denen er nicht mehr anzufangen weiß wie mit irgendwelchen anderen ...

Das Prinzip des Andeutens und Aussparens entwickelt sich in den 2000 Jahren chinesischer Malerei zu raffinierter Vollendung, Immer mehr wird die leere Fläche kompositorisches Gegengewicht des Dargestellten.

Da ist ein dreiteiliges Makemono in der Ausstellung, eine Bildrolle, die von rechts nach links zu lesen ist (indes das senkrecht hängende Kakemono in sich geschlossen ist). Diese dreiteilige Bildrolle „Heller Tag im Tal“ stammt von Tung Yiian, der um das Jahr 1000 in der Sung-Dynastie im Norden tätig war, und ist ein ideales Beispiel für dieses Kunstprinzip: aus der Fläche der 1,50 Meter langen Bildrolle, die zugleich Nebel, Aether und Nichts ist, bilden sich Ansätze von Land, Bäumen, Bergen, Menschen mit ihren Hütten und Booten; Formen tauchen auf aus dem Ungeformten: das Schöpferische an sich wird hier sichtbar.

Oder ein anderes Bild, von Fang Tsung-i, der an die 350 Jahre später in der Yüan-Dynastie tätig war: „Nebelige Landschaft", in dem der Gegensatz Nebel und sichtbare Welt zu höchster Vollendung gesteigert wurde, so daß freier Raum und dargestellte Gestalt einander in ihrer Wirkung und Bedeutung erhöhen.

Die Ausstellung in der Wiener Akademie umfaßt sechzig Blätter: zwanzig davon sind einfarbige Stein abklatsche von gravierten Steinen aus der Han- Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n.r Chr.). die 'ältesten Arbeiten, die wir kennen. Pferde, Ballspieler und Könige treten uns in einem archaischen, stilisiert- ornamentalen Realismus entgegen.

Der Haupttfil dei gezeigten Blätter fällt in die zweite Periode, der ehingsjschen Malerei,, die Malkunst des Mittelalters, das 'von der T’ang-Dynastie (618 bis 907) bis zur Yüan-Dynastie (1276 bis 1368) anzusetzen ist. Lieber die einzelnen Perioden der chinesischen Malerei finden sich viele informative Einzelheiten in der sehr lesenwerten Einführung zum Katalog, die Vadime Elisseeff, Kustos, des Musėe Cernuschi in Paris,. schrieb.

Doch glaube ich, -daß es am beStęn ist, diesen Blättern zunächst -einmal ganz unbelastet, yon Kata- logwisSen und Geschichtsdaten zu begegnen und sie so zu betrachten, als hätten sie weder bestimmte Urheber noch Titel, sondern stammten alle aus derselben fernen, vergangenen Zeit. Ich glaube, dann schließt sich uns ihr Wesen am leichtesten auf. und wir entdecken in dem seltsamen Ineinander der roten Stempel der Kunstkenner und -kritiker (die damals mehr zu sägen hatten als ihre heutigen Kollegen), der schwarzen Schriftzeichen, der freien Flächen und der in den See hineinhängenden Felsen die Ewigkeit der Kunst.

Und wir entdecken dieses eine Bild, das uns — ganz gleich, ob es der Katalog nun als besonders wertvoll bezeichnet oder nicht — mehr gibt als alle anderen, die „Böotfahrt im Mondlicht“, von einem Künstler, der Ma Yiian hieß. Drei Männer sitzen im Boot, nichts auf dem Bild ist weiß als ihr Gewand, und — fast schon zu viel — ein paar Wellen. Das graue Wasser setzt sich ohne Uebergang fort in grauem Land, das zu grauem.Berge wird: es könnte ein Berg aus Wa=ser sein. Unablässig treibt der Mond sein Boot am Fuße des Berges vorbei . . .

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