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Revolutionen der Alode

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Es gibt zwei Grundtypen der Kleidung: Entweder ist sie eine Hängekleidung, die von den Schultern herabhängt, oder eine Stützkleidung, die sich auf Taille und Hüften stützt. Die Hängekleidung betont das Gemeinsame von Mann und Weib, das Allgemeinmenschliche; durch sie kann der Geschlechtsunterschied mitunter völlig überhüllt werden. Priestergewänder sind stets Hängekleidung. Die Stützkleidung aber akzentuiert die Verschiedenheit der Geschlechter, da ja die Taille bei Mann und Weib verschieden ist, was so weit führen kann, daß Männer und Frauen gänzlich anders gekleidet gehen. Denn die Betonung der Taille führt bei der Frau sogleich zur Betonung der Büste und des Rockes, also zu einer Zweiteilung in Oben und Unten.

Nun ersehen wir aus der Kulturgeschichte, daß die geschlechtsbetonende Stützkleidung meist dann auftritt, wenn das Weib mehr in den Mittelpunkt des sozialen Lebens rückt. So war die vorklassische kretische Kultur eine des Mutterrechtes, und dem entspricht, daß die kretische Frauenkleidung Taille, Ausschnitt und Rock aufwies. Doch die ihr folgende klassische Kultur brachte eine Moderevolution, denn jetzt ging man von der Stützkleidung zur Hängekleidung über. Hosen und lange Aermel waren sowieso unbekannt, nun wurde auch die Taille aufgegeben — Frauen und Männer kleideten sich so ziemlich gleich. Denn im Verhältnis zum kretischen Mutterrecht trat die Stellung der Frau jetzt zurück; im Zentrum der klassischen Kultur stand der Mann.

Die nächste Kleidungsrevolution vollzog sich im Frühmittelalter. Erstens verschob sich der Kulturschwerpunkt nach Norden, wobei zugleich die Reiterei mit Steigbügeln zur wichtigsten Waffe wurde — das brachte die Hose. Zweitens fand man sich mit dem Entschwinden der Sklaverei in einem neuen Sozialkörper, dessen Verhältnis zu Arbeit, Beruf und Stand sich völlig gewandelt hatte. Für die Antike blieb Arbeit stets etwas dem Sklaven Zugehöriges, und anderseits kam der Bürger vor dem Beruf: unter derselben Toga konnte ein Staatsmann, ein Priester oder ein Bankier stecken. Antike Standbilder zeigen Ruhe oder Kampf, aber nie Arbeit. Jetzt dagegen haben wir eine Zeit des Arbeits- und Berufsstolzes. Der mittelalterliche Dom wimmelt von Arbeitsdarstellungen: In jedem Säulenkapitell hantiert ein Tischler, ein Schmied oder ein Steinmetz. Dieser Stolz drückt sich im Gewände aus; das Mittelalter ist eine Zeit lustvoller Repräsentationen in Berufs- und Standeskieidungen. Drittens und vor allem aber hatte sich das Verhältnis zum Weibe verändert. Denn man hatte eine neue Art Liebe entdeckt, nämlich die Minne, und damit eine neue Art Weib: die Dame.

Die Antike verehrte Diana, verehrte Demeter, also Teilaspekte des Weibes, doch nun wurden diese aufgehoben in der höheren Einheit der Nötre-Dame — und von daher stammt ja der Typus der Dame. Vor ihr lag man auf den Knien, sie war die Herrin der Herzen. Und darum drückt sich dieses neue Wesen des Weibes in einer neuen Kleidung, einer Stützkleidung, aus: Bis zum Boden reichende Aermel, Taille und Schleppe tauchen auf. Zugleich aber war, darüber hinaus, ein ganz neues Prinzip in die Kleidung gekommen. In der Antike war der Mensch das Maß aller Dinge, also auch des Gewandes, und dieses verblieb im natürlichen Ebenmaß des Körpers. Jetzt dagegen wurde durch Kleidung etwas ausgedrückt, das über den Körper hinausgeht — Beruf, Geistesdrang, Religion — kurz, die Mode war sozusagen expressionistisch geworden und schuf phantastisch schöne, doch bisweilen auch fratzenhafte Gebilde. Kleidung war nicht mehr eine Funktion des Körpers, sondern der Körper war eine Funktion der Kleidung. Was uns heute selbstverständlich scheint, nämlich, daß Mann und Weib ganz verschieden gekleidet gehen, begann sich damit in einem Prozeß geschlechtlicher Differenzierung langsam abzuzeichnen, und um 1380 stehen sie völlig gegensätzlich gekleidet da: dem Weibe der Rock, dem Manne die Hose. Und erst heute, da vor der Maschine alle gleich sind, beginnt ein neuer, rückläufiger Prozeß der allgemeinen Verhosung einzusetzen — die ungeschlechtliche Hängekleidung des Overall wird allmählich zum typischen Kleidungsstück der Zeit.

Mit der Französischen Revolution werden der Chevalier und die Dame abgelöst von dem Ci- toyen und der Citoyenne. Das war ebenfalls eine Moderevolution: Die Frau geht für dreißig Jahre zur antikisierenden Hängekleidung, ohne Taille, über; der Mann aber zieht die lange Hose an die mittelalterliche „Hose" war nur ein langer Strumpf gewesen. Damit kommt es zu einem bis jetzt hundertundfünfzig Jahre dauernden, sozialen Umformungsprozeß, in dem die Idealtypen des Chevaliers und der Dame immer mehr verblassen, während der Citoyen und die Citoyenne vordringen. Die einstige Frauenverehrung, die das höhere Anderssein des Weibes anbetete, wandelt sich paradoxerweise in den sogenannten Feminismus, der die Gleichberechtigung der Frauen erkämpft. Nun arbeiten diese außer Haus und treiben Sport. Dadurch wird die Mode unsicher, nämlich historisierend: sie macht Anleihen bei früheren Zeiten. Sie sagt nicht mehr triumphierend: „So ist das Weib am schönsten!“ sondern sie fragt: „Wann war das Weib am schönsten?“ Immer wieder tauchen Krinolinen, Reifröcke, Taillen auf, gegen die immer wieder die Hängekleidung anzukämpfen sucht — beispielsweise die präraffaelitische Kleidung von 188 5 in England, die deutsche Reformkleidung von 1903, bis endlich die Hängekleidung von 1920 allgemein akzeptiert wird. Heute dagegen sind wieder Taille, Büste und Reifrock im Kommen. Die Frauenmode seit 1790 zeigt also ein stetes, unsicheres Schwanken zwischen Hängekleidung und Stützkleidung — was eine seltsame Unsicherheit in der Bewertung des Weibes bedeutet. Zugleich aber bewirkt das Arbeitsleben der Frau einen immer stärkeren Gegensatz zwischen täglichem Arbeitskleid und abendlichem Stilkleid — die neutrale Arbeitsbiene wird nach Büroschluß zur umschwärmten Königin.

Die Männerkleidung seit der Französischen Revolution zeigt jedoch ein ganz neues Phänomen: Sie hat sich in dieser Zeit kaum verändert! Wir kleiden uns heute noch ungefähr so wie Goethe 1830. Was bedeutet diese Fossilierung? Offenbar will man mit der Kleidung nichts mehr ausdrücken, nichts mehr repräsentieren. Fällt aber der Drang zum Ausdruck fort denn das Bekenntnis zur Banalität kann man ja kaum so nennen, so hat Kleidung bloß noch bequem und praktisch zu sein. Die Männerkleidung ist zu-einer bloßen Nutzkleidung herabgesunken. Alle Standes- und Berufsunterschiede sind in der Kleidung verschwunden, denn es gibt im Grunde nur den Bürger. Es ist eine Kleidung, die nicht mehr von Weltanschauung, auch nicht vom Maße des Körpers, sondern von Maschine, Büro und Sport diktiert wird — sie ist passiv geworden. Lind je technischer die weite Welt wird, um so mehr übernimmt sie auch unsere Mannesmann-Röhren. Wie wird die Mode Anno 2000 ausschauen? — Sie wird vielleicht vor allem den Luftwiderstand überwinden.

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