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10 Jahre vor dem Wirtschaftswunder
Runde Zahlen verführen. „50 Jahre Wirtschaftswunder” titelte kürzlich, im Gedenken an 1945, ein Magazin. Wäre der Startschuß für das Wirtschaftswunder wirklich 1945 gefallen, wäre es schon seltsam, daß 1946 Österreichs Bundeskanzler und Außenminister auf dem Flug nach London vergebens hofften, sich dort einmal sattessen zu können, und daß 1948 noch einmal ganz Europa eine Hungersnot drohte. Der Wiederaufbau ging in das Wirtschaftswunder über, wenn es aber zum letzteren einen Startschuß gegeben hat, dann allenfalls 1950 mit dem entscheidenden Schritt zum freien Markt.
Die Fotografen der von den US-Streitkräften für die Wiener herausgegebenen Tageszeitung „Wiener Kurier” fingen die Nachkriegs-Rea-lität ein, und die Auswahl im Bildband „Osterreich 1945 - 1955” des Böhlau-Verlages vermittelt eine
Vorstellung von dieser Realität. (Die US-Botschaft schenkte die Stahlschränke mit dem Bildarchiv 1977 der Nationalbibliothek.)
Da sieht man die Menschen, die im Sommer 1945 eine Gelegenheit zum Mitfahren auf einem Ami-Lastwagen ergattern wollen. Oder die Kinder, die 1948 ihre erste Schokolade sehen. Oder das Plakat, das aufrechnet: Für die 6,7 Milliarden (damalige!) Schilling, die Österreich als Besatzungskosten zahlen muß, könnten 134.000 Wohnungen gebaut werden. Oder die Schlangen, die sich am 11. Dezember 1947 zum Geldumtausch anstellten.
Zwischen Wiederaufbau und Wirtschaftswunder liegen die Jahre der totalen Zwangswirtschaft, der Lebensmittelmarken und Bezugsscheine und der konsequenten Preiskontrolle. Anders wäre ein Überleben unmöglich gewesen.
In diesen Jahren spielte der „Wiener Kurier” in der Wiener Presselandschaft eine wichtige Rolle. Ne-
ben dem überparteilichen „Neuen Österreich”, das im gemeinsamen der ÖVP, SPÖ und KPÖ stand, viel Geld für sie verdiente und liquidiert wurde, als es kein Geld mehr abwarf, war er jahrelang die wichtigste unabhängige Zeitung im Osten Österreichs. Von österreichischen Journalisten gemacht, demonstrierte er modernen Zeitungsstil und war war, neben dem Sender „Rot-Weiß-Rot”, das wichtigste „Werbemittel für westliche Demokratie” in der Hauptstadt des in heute kaum mehr vorstellbarer Weise proporzmäßig aufgeteilten Landes.
Das Buch pflegt nicht oder nicht nur Nostalgie, es gibt auch Nachhilfeunterricht in Zeitgeschichte. Auch Bundeskanzler Figls Weihnachtsansprache von 1945 wird zitiert: „Ich kann euch keine Kohle zum Einheizen und kein Fensterglas zum Einschneiden geben...” Viele Monate nach den letzten Bomben kam das erste Fensterglas, nur Leute mit Kindern, Ärzte und so weiter wurden be-
teilt, wer sich Glas für ein zweites Fenster erschwindelte, wurde bestraft. 1985 verstand ein junger Journalist „Einschenken” statt „Einschneiden” und mokierte sich über Leute, die keine Trinkgläser hatten.
Genanntes Magazin schreibt übrigens: „Im April 1945 war Österreich am Ende” - obwohl es, dachte ich immer, da am Anfang war. Das Buch hilft solcher Unwissenheit ab.
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