27. Dezember 1974 - © AFP Photo

Als der große Bruder nicht mehr lachte

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Sorj Chalandons Roman „Am Tag davor“ erzählt eine bewegende Erinnerung an einen toten Bruder und zugleich die Aufarbeitung einer nationalen Katastrophe.

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Sorj Chalandons Roman „Am Tag davor“ erzählt eine bewegende Erinnerung an einen toten Bruder und zugleich die Aufarbeitung einer nationalen Katastrophe.

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Da erlebt die französische Gegenwartsliteratur im deutschsprachigen Raum seit Jahren eine Art Wiederauferstehung. Da diskutiert die Literaturkritik en détail die Werke von Michel Houellebecq, Leïla Slimani, Édouard Louis oder Didier Eribon – und scheint dabei einen der bedeutendsten aktuellen französischen Autoren eher links liegen zu lassen: den 1952 geborenen Sorj Chalandon. Dieser arbeitete viele Jahre als Journalist und Reporter für La Libération und schreibt seit 2009 für den Canard Enchaîné. 2005 debütierte er als Romancier und erhielt seitdem für seine mittlerweile acht Romane zahlreiche renommierte Auszeichnungen.

„Am Tag davor“, Chalandons jüngster, 2017 auf Französisch erschienener Roman, zeigt den Autor auf der Höhe seines Könnens. Mit Raffinement verknüpft er darin eine gesellschaftlich-politische Ebene mit der privaten Geschichte existenzieller Verluste und macht schon nach wenigen Seiten deutlich, wie das eine das andere bedingt.
Ein Mann von knapp sechzig Jahren, der Ich-Erzähler Michel Flavent, blickt zurück auf seine Jugend im nordfranzösischen Dorf Saint-Vaast-les-Mines, gelegen im Département Pas-de-Calais, wo der Kohlebergbau allmählich seinem Niedergang entgegensteuert. Ein permanentes Grau liegt über den Häusern, die Lebenserwartung ist gering, und dennoch richten sich die Menschen trotzig an ihrem Stolz auf, ein ehrwürdiges Industrieerbe zu pflegen.

Die Folgen der Katastrophe

Am 27. Dezember 1974 schließlich kommt es zu einem fatalen Unglück in Liévin, in der Grube Saint-Amé. 42 Arbeiter verlieren an diesem Tag ihr Leben, genaugenommen sogar 43, denn Michels vierzehn Jahre älterer Bruder Joseph stirbt Wochen später an den Folgen dieser Katastrophe. So zumindest meint sich Michel an diese Tage zu erinnern, die das Leben der Flavents und vieler anderer Familien von heute auf morgen ruinieren. Michel Vaters stirbt wenig später und hinterlässt einen Brief, der, so scheint es, den Verantwortlichen der Charbonnages de France die Schuld zuweist und zur Rache auffordert.

Michel selbst will mit dem Bergbau nichts mehr zu tun haben, arbeitet schließlich als Fernfahrer in Paris und lernt Anfang der 1990er-Jahre die Lehrerin Cécile kennen, die er zwanzig Jahre später bis zu ihrem Tod pflegt. Vergessen hat Michel seinen toten Bruder nie.

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