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Avantgarde von gestern und heute

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Wenn man die Spielpläne deutscher, Schweizer und österreichischer Städte studiert, kann man immer wieder beobachten, daß die kleinen Bühnen, bei uns Kellertheater genannt, einen anregenden Beitrag zum lebendigen zeitgenössischen Kunstleben liefern. Der Mut zum Experiment ist hier größer als bei den städtischen und staatlichen Instituten — und das finanzielle Risiko geringer. Zahlreiche interessante Stücke, die während der letzten 50 Jahre geschrieben wurden, eignen sich übrigens in besonderem Maße für den intimeren Rahmen der Kellerbühnen. Bei Strindberg finden sich, in den Anmerkungen zu „Fräulein Julie”, die Sätze: „Könnten wir zuerst und zuletzt eine kleine Bühne und einen kleinen Zuschauerraum schaffen, so würde vielleicht eine neue Dramatik auf kommen und ein Theater wenigstens wieder eine Anstalt für das Vergnügen der Gebildeten werden. Während wir auf dieses Theater warten, müssen wir wohl auf Lager schreiben und das Repertoire vorbereiten.” Nun werden von den kleinen Bühnen Jahr für Jahr Stücke, die seinerzeit für die Schublade geschrieben wurden, und solche Werke, die von zeitgenössischen Autoren im Hinblick auf eine kammerspielmäßige Aufführung geschaffen sind, dargeboten. — Das „Kleine Theater am Wallgraben” in Freiburg im Breisgau trat vor kurzem in seine vierte Spielzeit. Das Repertoire gleicht dem der ambitioniertesten Wiener Kellertheater. Wir finden hier Werke von Sternheim, Schnitzler, Camus, Rice, Sartre u. a. Eben spielt man dort „Fräulein Julie” von S t r i n d- berg- 4n der Neuübersetzung durch Willi Reich: ein beklemmendes Dreipersonenstück. Das Motiv vom „sozialen Steigen und Fallen”, vom Untergang eines „glücklich gestellten Individuums”, war einmal kühn, mutet jedoch, wie vieles bei Strindberg, ein wenig gestrig an. Trotzdem folgt man ihm mit nicht nur historischem Interesse. — Ein zweiter Abend vereinigt sechs Stücke aus Jean Cocteaus „T a s c h e n t h e a t e r” : Miniaturen, die einen Blick in die Werkstatt des Dichters gestatten und aufschlußreich sind für ein Menschenbild, das — wenn auch nicht allgemeingültig — durch die Schärfe der Zeichnung und die virtuose Sicherheit der Darstellung fesselt. „Die Dame von Monte Carlo”, „Das Phantom von Marseille”, „Schabernack im Schloß”, „Das Mädchen Anna” und „Ich habe sie verloren” sind Monologe bzw. Songs, für deren effektvolle Darbietung man,im „Kleinen Theater am Wallgraben” eine sehr originelle Lösung gefunden hat: die einzelnen Schauspieler stecken ihren Kopf durch eine gemalte Kulisse, eine Art Figurine, wodurch der Eindruck des Irrealen und Phantastischen, der diesen nüchtern-alltäglichen Miniaturen eignet, unterstrichen wird. „Der schöne Gleichgültige” ist ein Zweipersonenstück mit nur einer Sprechrolle und Schnitzlerscher Diktion. Helga Knosp schuf die Bühnenbilder, Friedrich Zehm schrieb eine am Songstil Kurt Weills geschulte Musik. Die einzelnen Schauspieler werden in den Programmen nicht namentlich genannt. Die Bescheidenheit dieser Anonymität steht in einem sehr glücklichen Kontrast zur oft eindringlichen künstlerischen Wirkung, die diese Gruppe von Amateuren zu erzielen versteht.

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