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Christus auf den Boulevards von Paris

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Haben Sie von dem groben Aergernis gehört?

Da ist in Notre Dame, in der Kathedrale von Paris, während des Ostergottesdienstes ein junger Student in einer gestohlenen Dominikanerkutte auf die Kanzel gestiegen und hat in die überfüllte Kathedrale hineingeschrien: „Gott ist tot.’

Die frommen Beter waren entsetzt und empört.

Die Polizei kam, verhaftete den Mann und führte ihn in eine Irrenanstalt.

Aber warum hat man diesen Menschen verhaftet?

Ist man denn verrückt, wenn man heute im 20. Jahrhundert etwas ausspricht, was die Spatzen von den Däthern pfeifen?

Du hattest recht, junger Student. Frage deine Kommilitonen, die in Paris an dęr Sorbonne studieren, diesem geistigen Elektrizitätswerk, wo die Führungsschicht der intellektuellen Hierarchie aufgeladen wird.

Im Hörsaal der medizinischen Fakultät habe ich folgendes Erlebnis: Hier ist europäische Luft — mehr noch, kosmopolitische Luftl Die großen Führer der asiatischen Politik haben hier studiert. Der Student neben mir reicht mir sein Kollegheft, weil er merkt, daß ich als Ausländer dem Professor nicht folgen kann. Diesen sympathischen Franzosen frage ich in der Pause nach Paris und nach seinen Studienfächern und dann vorsichtig nach seiner Einstellung zur Religion,

Dieser junge Student ist sehr gebildet. Er ist zu gebildet, um an religiösen Fragen nicht interessiert zu sein. Aber er interessiert sich für Christus nicht mehr als für eine Buddhasfatue, deren antiken Kunstwert er achtet. Man ist ja unter Gebildeten auch tolerant. Aber Christus ist für ihn ein überlebter Gott.

Um dem peinlichen Gespräch eine Wendung zu geben, reicht er mir eine Zigarette.

Gott ist tot für ihn…

So hat der Ketzer in Notre Dame doch recht gehabt?

Aber im einfachen Volke, da lebt Christus doch wohl noch, da ist Er doch noch nicht tot? Diesen zerlumpten Gestalten, die unter den Seinebrücken hausen, ist doch Gott noch nah? Diesen Clochards, die sich im Winter auf den Gittern der Untergrundbahn am aufsteigenden Mief erwärmen, die müssen doch ihren armen Bruder Chrisfus besser kennen? Bei diesen Aermsten hoffte ich Gott noch zu finden. Sie erkannten mich nicht als Priester. Es gibt soviel Exotisches auf dem Champs-Elysėes, dal; ein ausländischer Geistlicher nicht auffällt!

Aber auch für diese Ausgestoßenen war Gott tofl

Vielleicht war Er im Dreck erstickt, im Schnaps ersoffen. Vielleicht von Ungeziefer zerfressen, unter den Brücken erfroren oder verhungert. Nein — das spürte ich —, Gott ist für diese Clochards nur ein Luxusartikel der hohen Bourgeoisie.

Vielleicht kennt die Dirne an der Straßenecke Gott noch? Sie haf doch eine sündige Schicksalsschwesfer, die Magdalena hieß und sich damals nach Christus gesehnt hat. Und Christus suchte ja die Sünder. Da sie auf mich zukam und mich ansprach, winkfe ich mit einem barschen „Non” ab. War das richtig? Hätte ich ihr nicht gleich ihr Unrecht zuschreien sollen? Hätte ich von Gott reden sollen? Da ging ich ihr nach. Ich weiß nicht mehr, was ich ihr sagte: vom unwürdigen Leben, von der Sünde, vom guten Samariter. Aber sie klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Tu es foul’ Verrückt also bin ich! Auch für sie ist Gott tot…

Ich hätte keinen Mut mehr zu anderen Gesprächen. Ich kam mir vor wie einer der Emmausjünger, der trostlos und verzweifelt nach Hause ging und dem alles zerschlagen schien. So also steht es mit Gott in Paris: Gofl ist tot. Ja, ich gebe es zu, ich hatte keinen Mut mehr zu Gesprächen über Gott. Selbst Josefine, das Zimmermädchen im Hotel, betrachtete mich komisch, als ich nochmals eip solches Thema berührte. Und auch Fernand, der blinde Losverkäufer auf der Straße, nahm mich nicht ernst. Auch nicht der zerlumpte Alte, der vor dem Museum mit einem heiseren „Allumettes, Allumefles!’ seine Streichhölzer anbot.

Christus ist also doch tot?

Der junge- Ketzer in Notre Dame hat recht gehabt — Gott ist tot. Er ist tot in den Salons und in den Bars. Er ist tot in den Büros und in den Fabriken. Er ist sogar bei wenn man in den Straßen von Paris Deinen Namen, Herr Jęsu Chrisfus, nennt.

Wohl steht da eine Kathedrale, Notre Dame. Aber man achtet sie wie ein Museumsstück, und man befrachtet die Priester darin wie Museumsdiener.

Hast Du die Stadt schon verflucht wie Jerusalem? Ich bin Deinen Heiligen dort nicht begegnet, die Deinen Namen noch verehren. Oder bin ich schon zu mutlos und kleingläubig? Denn Du kanijst doch’ auch auf dem Asphalt von Paris noch Samen säen und aufgehen lassen. In dieser Sfeinwüste der Großstadt sind Deine Kinder nur religiös verdurstet. Aber Du kannst auch Wasser aus den Felsen schlagen! Tue das, Herr, auch in Paris. Dieses Paris aber ist überall auf der Welt.

Aus „Christus auf der Reeperbaitu”. Bastion-Verlag

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