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Das andere Arrierika

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Der europäische Leser ist im allgemeinen zu der Annahme geneigt, daß Amerika als „junge Nation“ auch ein Land der Jungen ist. Die Wirklichkeit ist anders. Zwar ist die junge Generation im äußeren Bild Amerikas sehr sichtbar und hörbar, aber im aktiven politischen, geistigen und religiösen Leben spielt sie eine nur untergeordnete Rolle. Es ist kaum übertrieben, wenn man sagt, daß vor dem fünfunddreißigsten Lebensjahr der Amerikaner und auch die Amerikanerin in den genannten Bereichen nur selten tätig sind. Eine „Jugendbewegung“ nach europäischem Muster ist unbekannt. Das Hervortreten der älteren Generation hat eine Reihe von Ursachen; nicht zuletzt wirkt hier in den jüngeren Jahren die außerordentliche Anteilnahme am Sport mit, man darf auch die für unsere Verhältnisse rigorose Inanspruchnahme durch das Berufsleben nicht vergessen. Besonders die akademische Jugend des Mittelstandes hat es in Amerika äußerst hart.

Gerade deshalb ist aber der Aufbruch der amerikanischen katholischen Jugend ein wirklich überraschendes Phänomen. Ohne priesterliche Leitung, ohne nennenswerte Geldmittel und ganz aus sich selbst heraus haben sich Gruppen zusammengetan, die sich eine Erneuerung des Lebens und der ganzen Kultur zum Ziel gesetzt haben. Freilich gibt es da Vorläufer, von denen die Catholic-V/ o r k e r - Bewegung mit ihren Friendship Houses besonderer Erwägung verdient. Diese Bewegung, von der ehemaligen Kommunistin Doro-thy Day geleitet, hat einen etwas „proletarischen“, agrarromantischen und dabei aktiv-caritativen Zug, der nicht einer starken pazifistischen Note-entbehrt. Die Catholic-Worker-Gruppe gibt in New York eine Monatsschrift im Zeitungsformat heraus, unterhält eine ganze Reihe von Suppenküchen für die Ärmsten, stellt sich aber zur Großstadt bewußt ablehnend ein und leitet eine Farm als lebendiges Symbol ihres Zurück-zum-Land-Strebens. Obwohl der Catholic-Worker-Verband mitsamt seiner gleichnamigen Zeitschrift von den konservativeren Katholiken weltanschaulich ab* gelehnt wird, genießt er schon seiner caritativen Werke wegen oft deren materielle Unterstützung. Hie und da gibt es im katholischen Lager einen hellen Aufschrei der Entrüstung über den einen oder anderen radikalen Artikel im „Catholic Worker“, der einmal tüchtig über die Schnur haut — besonders in Dingen der Militärdienstverweigerung—, aber die Tatsache bleibt bestehen, daß trotz großer und oft größter ideologischer Distanz niemand dem „Catholic Worker“ seinen Respekt verweigern kann. Hier blüht echtester franziskanischer Idealismus. Auch nach dem Tode des Mitbegründers Peter Maurin, eines originellen Dichters französisch-bäuerlicher Abstammung, hat der „Catholic Worker* an Grund nicht verloren.

Obwohl das jugendliche Element am „Catholic Worker“ stark vertreten ist, kommt es in der Monatsschrift „Today“ (Chikago) noch stärker zur Geltung. Hier wird Katholische Aktion im jugendlichen Rahmen gepredigt und gelebt; die Aufmachung dieser Zeitschrift sucht sich dem Zeitge'st anzupassen, wobei abeT eine gewisse Eingliederung in die weltliche amerikanische Presse wtesentlich gesucht wird. Anders verhält es sich da mit .Integrity“, von Carrol Jackson, einer Millionärstochter aus Chikago, in New York herausgegeben. Miss Jackson ist eine Konvertitin, die auf ihre Erbschaft verzichtete und im Verein mit Ed Willock, dem Mitherausgeber, ein radikales Christentum ohne den Linkskurs des „Catholic Worker“ vertritt. Völlig unamerikanisch mutet der kompromißlose Extremismus dieser Zeitschrift an, die in monatlichen „Sondernummern“ erscheint und jeweilig immer einen ganzen Fragenkomplex behandelt. Besonders in der katholischen Universitätsund Collegejugend findet „Integrity“ einen begeisterten Widerhall. Durch bitter-satirische Zeichnungen werden die jeweiligen Götzen der Zeit angeprangert, und gerade hier zeigt sich am schärfsten der offene Bruch mit der amerikanischen Neo-Folklore. Die Erwerbsgier, der Sexualwahn, die Anbetung des „Fortschritts“, die Verhimme-lung der Medizin, die fetischhafte Verehrung der Demokratie werden brutal in ihrer Gottlosigkeit, Seichtheit und Dummheit angeprangert. Doch wäre es ein Irrtum, zu glauben, daß „Integrity“ sich nur auf die Kritik beschränkt; auch die bleibenden Werte unserer Zeit werden geprüft. Dennoch bleibt als Grundton die Erkenntnis, daß die heutige amerikanische „moderne“ Kultur einfach nicht „getauft“ werden kann, da sie einen offenen Abfall von Gott darstellt, und daß man nach alten Rezepten neu beginnen muß.

Fast ebenso radikal, aber vielleicht weniger systematisch, ist die einzige katholische Tageszeitung der Vereinigten Staaten, der „Sun Herald“ von Kansas City, der am 10. Oktober 1950 erstmalig erschien. Auch hier ist die junge Garde am Werk. Wie bei der Gründung von „Integrity“ wurde finanziell mit fast nichts angefangen. Die allgemeine Uberzeugung, daß eine katholische Tageszeitung in Amerika völlig unhaltbar sei, das jugendliche Alter der Gründer, dras Mißtrauen, das ein Teil der Hierarchie dem Projekt entgegenbrachte„ das hier vorhandene uneinge-standene Gefühl der katholischen Massen, daß Katholiken „von Natur aus“ ungeeignet seien, eine lesbare Tageszeitung herauszubringen, all das wirkte als Hemmschuh. Ursprünglich bestand der Plan, die Zeitung in Chikago zu verlegen, aber der Kardinal-Erzbischof der Millionenstadt (mit etwa 1,500.000 Katholiken) wollte aus „taktischen“ Gründen nicht und winkte energisch ab. Noch vor der ersten Nummer mußte Robert Hoyt mit der Bande seiner Getreuen nach Kansas City „flüchten“, das am Rande der katholischen Ökumene der USA liegt, dessen Bischof aber eine gastliche Hand ausstreckte. Als große Schwierigkeit erwies sich der Versand der Zeitung, da die Distanz Kansas City — New York etwa jener von London — Budapest gleichkommt. Andererseits wollten aber die Gründer des „Sun Herald“ nicht auf den „Mittleren Westen“ verzichten, dem sie, wahrscheinlich mit Recht, in der Entwicklung Amerikas eine Schlüsselstellung zuschreiben. In New York, Boston oder in Philadelphia hätten sie es für den Anfang viel leichter gehabt, da dort die Katholiken in kompakten Massen leben. (Bostons Bevölkerung ist zu 76 Prozent katholisch!)

Die Redakteure und Redakteurinnen des „Sun Herald“ formen zugleich eine religiöse Gemeinschaft (gemeinsamer Messebesueh und Sakramentsempfang), die im Sinne der relativen Armut (frugal i t y) ohne den vielgepriesenen Luxus leben will. In den ersten Wochen und Monaten der Existenz des „Sun Herald“ war sogar bittere' Armut das Los dieser Arbeiter im Weingarten des Herrn. Robert Hoyt lebt mit seiner Familie auch heute noch in einem ausgebrannten Haus an der Peripherie der Stadt, in dem die Schäden nur notdürftig mit Pappe ausgebessert sind. Langsam, aber sicher geht nun die Arbeit bergauf. Mit der Hilfe von Korrespondenten in fast allen Teilen der freien Welt und des französisch-mexikanischen Zeichners Jean Charlot hat diese Zeitung ein markantes Profil bekommen. Das Durchschnittsalter der Schriftleiter schätze ich auf 25 bis 27 Jahre; Verheiratete, Unverheiratete, Verlobte finden sich darunter. Und mit der Ausnahme der Auslandskorrespondenten und der kolumbianischen Au-

lnndsredakteure sind sie alle Amerikaner mit einem unheimlich scharfen Auge für die Defekte in den Zuständen, aber auch in den Zielrichtungen ihres Landes. Sie wissen zum Beispiel nur zu gut, daß die militärische und wirtschaftliche Mission der USA in Europa ohne ein spirituelles Programm im Grunde genommen wertlos ist. Von „Integrity“ her ist der „Sun Herald* stark inspiriert, doch ist er wohl eindeutiger antikapitalistisch — freilich ohne in die Versuchung zu geraten, den Privatkapitalismus durch den Staatskapitalismus „sozialistischer“ Prägung ersetzen zu wollen. Im großen und ganzen zeigt der „Sun Herald“ eine Frische, eine Unverbrauchtheit, einen Idealismus und eine Ehrlichkeit in der Behandlung der Probleme, die erquickend1 sind.

Hier haben wir ein Stück des „anderen Amerika“, das uns leider nur zu oft in der offiziellen Propaganda vorenthalten wird, das leidende, darbende, kämpfende Amerika, das ein weit besserer Exportartikel wäre als das langweilige, schablonenhafte Geschwätz über Demokratie und „Living Standards“.

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