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Das entsetxliclie Geheimnis

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Vor zehn Jahrin, am 31. Juli 1944, startete der berühmte französische Dichter und Flieger zu seinem letzten Flug.

Vor einigen Jahren befand ich mich auf einer langen Reise und mir kam die Lust, die fahrende Heimat anzusehen, der ich mich auf drei Tage verschrieben hatte. Ich erhob mich also in dem Lärm, der dem Geräusch des rollenden Schuttes in der Meeresbrandung gleicht, und ging um ein Uhr nachts durch den ganzen Zug.

Die Schlafwagen waren leer, die Wagen erster Klasse gleichfalls, aber die Wagen der dritten beherbergten hunderte polnischer Arbeiter, die aus Frankreich abgeschoben wurden und ihrer Heimat zufuhren. Ich mußte in den Gängen über schlafende Menschen hinwegschreiten. Ich blieb stehen, um sie zu betrachten. Unter der dürftigen Nachtbeleuchtung in dem großen, ungeteilten Wagen, der einem Massenlager glich, einem Kasernenraum oder einer Polizeiwache, sah ich ein ganzes Volk, geschüttelt von den Bewegungen des Schnellzuges, ein ganzes Volk, getaucht in böse Träume, auf dem Wege zu entsetzlicher Armut. Dicke, kurz geschorene Köpfe rollten auf dem Holz der Bänke, Männer, Frauen und Kinder wälzten sich unruhig, als ob all der Lärm sie feindselig angriffe, als ob sie die Stöße aus ihrem Vergessen aufrüttelten. Sie hatten alle nicht die Gastlichkeit'guten Schlafs gefunden.

Es schien mir, als hätten sie etwas von ihrem Menschentum eingebüßt, wie sie so von den Wirtschaftsschwankungen von einem Ende Europas zum anderen gefegt wurden. Man hatte ihnen das kleine Haus in Nordfrankreich mit seinem winzigen Garten und den drei Geraniumtöpfen entrissen, die ich früher so manches Mal an den Fenstern der polnischen Kumpel gesehen habe. In schlecht verschnürten, verbeulten, klaffenden Bündeln hatten sie nur eben ihr Küchenzeug, ihre Decken und Vorhänge verpackt. Alles andere, was während der vier oder fünf Jahre ihres Aufenthalts in Frankreich ihr Glück und Trost war, die Katze, der Hund, die Geranien, mußten Zurückbleiben und nur die Schüsselsätze der Küche gingen mit.

Eine Mutter stillte ihr Kind. Sie war so erschöpft, daß man meinen konnte, sie schliefe. Das Leben ging in diesem Wagen in Widersinn und Unordnung weiter. Ich sah auf den Vater, ein nackter, schwerer Schädel wie ein Stein, ein Körper, der sich in unbequemem Schlafe krümmte und in Arbeitskleidern steckte, die abgetragen und zerknüllt waren.

Wie ein Lehmkloß sah er aus, Ich mußte bei mir denken: Nicht die Armut, nicht der Schmutz und die Häßlichkeit sind hier die große Frage. Aber dieser Mann und diese Frau haben sich doch eines Tages kennengelernt. Damals hat er ihr doch sicher zugelächelt, er hat ihr nach der Arbeit Blumen gebracht. Vielleicht war er ein wenig schüchtern und linkisch und hatte Angst, sie könnte ihn verschmähen. Die Frau hat sich vielleicht in natürlicher Koketterie und Anmut den Spaß gemacht, ihn in Unruhe zu halten. Er aber, der jetzt nur noch ein Hammer und eine Bohrmaschine ist, fühlte da-

mals in seinem Herren eilte beglückende Angst. Das entsetzliche Geheimnis drückte mich, wie diese Menschen solche Lehmklöße werden konnten. In welche furchtbare Form sind sie gepreßt worden, aus der sie wie vörit Treibhammer zerbeult herauskomnien? Ein alterndes Tier behält doch Anmut. Warum ist dieser herrliche menschliche Ton von seinem Töpfer verdorben worden! Und weiter und weiter fuhr ich untfcr diesem Volk, dessen Schlaf die Unrast einer Nächtwirt- schaft an sich trug. Ein dumpfer Lärm mischte sich aus rauhem Schnarchen, unterdrücktem Klagen und dem Schlürfen der Schuhe auf der Bank, sooft einmal einer auf der anderen Seite zu liegen versuchte, Wenn die eine lahm und zerschlagen war. Dazu klang als ständige Begleitung das Rasseln des Zuges, das dem Geräusch des rollenden Schuttes in der Meeresbrandung gleicht.

Zwischen Mann und Frau hatte sich das Kind ein Nestchen gebaut, so gut es ging, und schlief. Einmal wendete es sich doch im Schlaf und sein Gesichtchen erschien mir im Licht der Nachtbeleuchtung. Welch liebliches Gesicht! Diesem Paar war eine goldene Frucht geboren, aus den schwerfälligen Lumpen war eine Vollendung von Anmut und Lieblichkeit entsprungen. Ich beugte mich über die glatte Stirn, die feingeschwungenen Lippen und sah, das ist ein Musikerkopf — das ist Mozart als Kind, eine herrliche Verheißung an das Leben! So sind nur die kleinen Prinzen im Märchen. Wäs könnte aus diesem Kind, wenn es behütet, umhegt, gefördert würde, alles werden! — Wenn in einem Garten durch Artyvechsel eine neue Rose entsteht, faßt alle Gärtner größte Aufregung. Man verwahrt die Rose, man pflegt sie, man tut alles für sie. Aber für die Mep- schen gibt es keinen Gärtner. Das Kind Mozart wird wie alle anderen vom Hammer zerbeult. Vielleicht empfängt es einst sJipe höchsten Wonnen von einer entarteten Musik in der stickigen Luft eines Nachtcaffe.

Mozart ist zum Tode verurteilt.

Ich kehrte in mein Abteil zurück, und meine Gedanken gingen mit: diese Leute leiden gar nicht unter ihrem Los. Nicht Nächstenliebe bewegt mich hier. Ich will mich nicht über eine nie Verheilende Wunde erbarmen, denn die Menschen, die sie am Leibe tragen, fühlen sie nicht. Aber das Menschliche ist hier beleidigt, nicht der einzelne Mensch. An Mitleid glaube ich nicht, aber ich sehe die Menschen an wie ein Gärtner. Darum quält mich nicht die tiefe Armut, in der man sich schließlich ebensogut zurechtfindet wie in der Faulheit. Generationen von Morgenländern leben im Schmutz und fühlen sich wohl dabei. Mich quält etwas, was die Volksküchen nicht beseitigen können. Nicht Beulen und Falten und alle Häßlichkeit, mich bedrückt, daß in jedem dieser Menschen etwas von einem ermordeten Mozart steckt.

Aus „W'iud, Sund und Sterne", Verleg Kerl Reuci

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