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Das Sanctus und der Boxer

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Wir nannten sie die Kulturbaracke. Die anderen Baracken im Lager hatten nur Nummern. Außer der Hütte der Lagerleitung. Die aber betrat man nur ungern, wie etwa in normalen Zeiten ein Amt. Die Kulturbaracke suchten wir sehr gerne auf. Wir kamen zu unserer Zeit, zu den unseren Bedürfnissen entsprechenden Darbietungen. Alle zusammen hätten wir darin nicht Platz gefunden. Kaum ein Zehntel.

Von außen betrachtet, zeigte sich die so vieles für uns bedeutende Stätte in demselben Gewand wie alle anderen Behausungen auch. Da war das niedere, mit starkem Segelleinen bespannte Holzgerippe, das allen unseren Wohnstätten das Aussehen von langgestreckten Holzzelten gab. Erst wenn man die Kulturbaracke betrat, spürte man einen Unterschied; einen ganz gewaltigen sogar. Was gab es da nicht alles! Einmal die mit kleinen bunten Gardinen verhangenen Fenster, den hölzernen Fußboden (in den Wohnstätten trennte uns nur eine dünne Strohschicht von der feuchten Erde), die Eckbänke, Stühle und Tische. Wer an so manchem ruhigen Tag hier drinnen saß und durch die Zellulosefenster in die Welt hinaussah, für den war der Stacheldraht plötzlich nicht mehr die Begrenzung seines Bewegungsraumes,

sondern eher eine Begrenzung für die, die draußen herumliefen. Man fühlte sich wie zu Hause. Alle, die hereinkamen, sagten, daß es die bunten karierten Vorhänge wären, die das so rar gewordene Gefühl der Geborgenheit wieder wach werden ließen. Mein Landsmann Sepp wähnte sich im Jagdstüberl eines Alpengasthofes, mein Freund, ein Rheinländer, behauptete immer wieder, er fühle sich wie hoch über dem Grenzstrom seiner Heimat inmitten eines Riedes. Ede, der Ostpreuße, dachte beim Anblick der karierten Vorhänge an die masu-rischen Seen und Erwin, der Sachse, an ein Häuschen im Erzgebirge. Und dann hatten wir noch einen Ostfriesen in unserer Runde. Wenn der durch eines der Fenster sah, dann glaubte man, daß hinter dem Stacheldraht die endlose Nordsee liegen müsse.

Nun hatten wir auch noch unseren Fritz Thiel im Lager. Fritz nannten wir ihn einfach, obwohl er nicht mehr zu den Jüngsten gehörte. Er stammte aus Düsseldorf und war Musiklehrer. Außerdem war er Junggeselle, und man erzählte sich die drolligsten Dinge darüber, wie er seinen Stand verteidigte.

Im Lager übte Fritz die Funktion eines Unterrichtsministers aus. Es war seine Aufgabe, den Stundenplan unserer Abendvolkshochschule festzulegen. Und zwar so, daß jeder zu seinem Recht kam. Fritz hatte es nicht immer leicht. Es wurde in französischer

Sprache, Buchhaltung, ja sogar im Schach und in Stenographie Unterricht erteilt. Jeder der Lehrer glaubte nun, daß sein Fach das wichtigere sei und er daher Anspruch auf eine größere Stundenanzahl zur Benützung der Baracke habe. Schließlich unterrichtete Fritz selbst Harmonielehre und leitete einen kleinen Chor. Das war aber noch nicht alles. Fritz mußte sich auch mit den Vertretern anderer Interessentengruppen, zum Beispiel mit den Sportlern, herumschlagen. Im Winter trainierten nämlich auch die Boxer an der durch den Geist geweihten Stätte. Ab und zu bot man uns auch Theater- und Kabarettvorstellungen, bei denen sich Fritz als sonorer Baß vernehmen ließ. Die Hallenarie aus der „Zauberflöte“ sang er besonders schön.

Mein Freund Heinz und ich — wir waren ein unzertrennliches Duo — besuchten regelmäßig die Gesangs- und Theoriestunden bei Fritz. Sie waren eine Attraktion, leider aber nicht besonders besucht. Zum Singen fanden sich rund zwanzig Mann zusammen, zur Harmonielehre kam knapp die Hälfte davon, obwohl es tatsächlich notwendig gewesen wäre, daß sich auch in dieser Stunde alle Sänger eingefunden hätten. Es war also kein Wunder, daß sich Fritz manches Mal darüber gereizt zeigte.

Zweimal in der Woche kamen wir also zusammen und sangen frisch drauf los. Der „Brunnen vor dem Tore“, „Die Stille Gasse“ mit dem Lebewohl, der „Gang zum Brünnele“ und auch das „Innsbruck, ich muß dich lassen“ standen bereits auf unserem Repertoire.

Was unserem Fritz aber besonders hoch anzurechnen war, schien uns die Tatsache zu sein, daß er mit uns, obwohl er von Religion nichts hielt, das Sanctus von Schubert einstudierte. „Ich han min Musik“, pflegte er immer zu sagen, wenn sich ein Gespräch kultischen Sphären näherte. Und damit war es aus. Wir sangen also, als wir in unserer Kunst schon etwas fortgeschritten waren, das Sanctus. Und wir sangen es mit einer Hingabe, die uns, auch das muß eingestanden

werden, zum Großteil durch Fritz aufsuggeriert wurde. An manchem Winterabend scholl aus der Kulturbaracke das „Heilig, heilig, heilig“, klang zu den Wachtürmen hinauf, in denen fröstelnd die Posten standen. Vor der Baracke gingen oft Kameraden auf und ab. Einzutreten wagten sie nicht. Sie fürchteten, daß das Knarren der Türe uns stören könnte. So blieben sie draußen und hörten den Gesang als etwas, was von weither zu ihnen kam.

Es war einer dieser Abende. Unsere Zeit ging schon zu Ende. Eben standen wir um unseren Fritz herum und sangen das Sanctus — sangen wieder das Sanctus. Es mußte diesmal sehr schön ausgefallen sein. Fritz hatte die Augen geschlossen und sich beim Dirigieren auf sparsame Gesten beschränkt.

Da wurde unter lautem Gelächter die Tür aufgerissen. Geknarre, Gepolter grob zu-geschnitzter Holzschuhe.

„Holla, hinaus. Jetzt kommen wir dran. Boxstunde ist.“

An der Spitze der Schreihälse ein lagerbekanntes Großmaul. Man wußte nicht viel Gutes über ihn zu sagen. Seine Stärke war alles. Darum versuchte er sich im Boxen.

Welch ein Mißklang, der da plötzlich im Räume lag. Wir wendeten uns nicht um, sahen nur auf die Hände Fritz“, als hinge daran unser Leben. Fritz schien die Radaubrüder gar nicht bemerkt zu haben. Oder doch? Ganz langsam ließ er die Linke aus dem Takt fallen und hob sie sanft den Ruhestörern entgegen. Die verstummten tatsächlich. Das hatten wir nicht erwartet. Trotz der Autorität Fritz' nicht. Die Boxer hielten den Mund. Breitbeinig, in den Händen die Handschuhe, standen sie da und hörten uns zu.

„Er, der nie gekommen...“, sangen wir eben, und es hatte den Anschein, als wäre die Ruhe nach dem Verstummen der Boxer greifbar geworden.

„Er, der immer war..Ich wagte einen Seitenblick zu den Boxern. Ihr Anführer hatte

den Mund etwas offen stehen, die anderen sahen uns an, als wären wir Wesen einer anderen Welt.

„Heilig ist nur Er.“ Das Lied klang aus. Sekundenlang war es ganz still. Dann erst öffnete Fritz die Augen, und ganz leise, nahezu erschöpft, sagte er uns, daß es wunderschön gewesen sei.

Wir wandten uns der Türe zu, die Boxer

kamen in den Raum herein. „Schön habt ihr gesungen“, sagte ' ihr Anführer. „Wirklich schön.“ In seinen Augen leuchtete etwas, was mit seiner körperlichen Kraft in keinem Einklang zu stehen schien. Wir traten in die Nacht hinaus, gingen unseren Schlafstätten entgegen. Aus der Kulturbaracke aber hörten wir noch das klatschende Aufeinandertreffen der Boxhandschuhe.

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