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De Profundis-Poesie in Polen

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In Polen erstand durch diesen Krieg eine neue „Erlebnis- masse”, wie sie in ihrer Schwere keine Generation vorher je erfahren hatte. Auch die Reaktion darauf war anders. Ob- gleich schlieBlich beinahe ganzlich zerstbrt, verharrte Polens Hauptstadt in einem dauernden Widerstand, so daB der Feind sie eigentlich nie ganz in die Hand bekam. Freilich verwan- delte sich diese Stadt der Weichselnixe bald in einen ein- zigen groBen Friedhof, auf dessen Platzen und in dessen Garten man die Gefallenen eilig verscharrte, um weiterzu- kampfen. Heute noch berichten die Epitaphe der Torwande von jenen, die dort in Rudel zusammengetrieben starben, eine anonyme Armee, die sich selbst einberufen und mobi- lisiert hatte. Von den Barrikaden und aus den Gebauden verjagt, kletterte der Widerstand in die Kanale hinab. Von dem Feind auch da verfolgt, fiel er im unterirdischen Hand- gemenge oder er erstickte, an die nieflergelassenen Gitter zur Weichsel gedrangt, im Kot der Latrinen. Ungefahr 600.000 Polen opferten allein in Warschau so ihr Leben.

Und Polens Dichter, die jungen vor allem, die damals an die Zwanzig zahlten — was sollten sie tun, wenn sie nicht auf der StraBe ermordet wurden — wie Bruno Schulz, der pol- nische Kafka? Sollten sie verschweigen, was sie erlitten und Verse fiber ihre zarten privaten Leidchen ziselieren, sollten sie weiter wie Kinder vor einem Leben stehen, darin man die Kinder ihrer Nachbarn in Feuerbfen verheizte? Sollten sie sich in heroischen Gesten erschopfen? Der Wert des Hel- denlorbeers sank vor den groBen Menschenausverkaufen in den KZ von Maidanek und Auschwitz und bei den Warschauer Massenexekutionen! Welches Ideal entsprach also der neuen Situation?

Das jtingste Buch des in dem vor 1918 osterreichisch gewe- senen Lemberg 1924 geborenen Zbigniew Herbert nennt sich „Studium des Objektes", und das umschreibt vielleicht am genauesten die Sendung des Dichters und im besonderen des Lyrikers Herbert in einer so gearteten Zeit. Auch bei seinem um drei Jahre alteren Landsmann Rozewitz findet sich eine ahnlich unterkiihlte Methode der Betrachtung des in Strenger Isoliertheit entstandenen Gedichtes. Niemand aber verstand eine daraus zu fordernde neue Einstellung zum Vers wie in der Kurzprosa in einer derart meisterlichen Formulierung auszufeilen wie der schon genannte Zbigniew Herbert, der denn auch verdienterweise erst kiirzlich mit dem Osterreichischen Lenau-Preis ausgezeichnet wurde! Nicht das Sentiment, sondern die anatomisch prazise Darstellung bewirkt nun, da der Krieg zurfickwich, eine neue Erschfitterung, die die Lyrik bisher nie erreichen konnte. Einem bei Suhrkamp erschienenen Bandchen, die von dem trefflichen Ubersetzer Carl Dedecius kontrollierte Auswahl aus drei Gedichtbiichern Herberts, hat der Verlag nun eine Prosaarbeit desselben Autors folgen lassen, „Der Barbar im Garten”. Darin flnden sich groBartige Essays fiber franzosische und mittelitalienische Stadte. DaB Polen die lateinische Nation unter den Slawen ist, erweist sich hier ebenso wie in jenen eisklaren lyrischen Meditatio- nen, als die man das Einzigartige seiner Gedichte anerkennen mfiBte.

Durch das Prinzipielle einer solchen Einstellung lehrt uns Herbert auch das Unmenschliche ins Auge zu fassen. Was er selbst „Studium- des Objektes”- betifelt£," ndet\hiter statt. Seine'Gedichte, wie „Nlke, wenn sie-zogert” oder „Dle Fiinf” bilden daffir geradezu Modellfalle. Die uns gegebenen gei- stigen Konzentrate heben das Gedicht in einen hoheren Sinn zu zeitloser Gfiltigkeit. Sie uns gefunden zu haben und fer- nerhin zu flnden, bleibt die dauernde Bedeutung des jungen Dichters, den bei uns zu Gast gehabt zu haben, uns eine hohe Ehre bereitet — in der Gegenwart wie in der Erinnerung.

Seine Gedichte werden Alarmzeichen fiir uns sein — wie jener feierliche Ruf aus der Hohe, der am 1. September 1939 aus dem von Motorensummen erffillten Himmel warnte: „Oglasz.am alarm dla Miasta Warszawy” — „Ich erklare Alarm fiber der Stadt Warschau” —, immer wieder kommt dieser Alarm, und aus Herberts Gedichten hallt er ganz rein und stark und hinaus fiber unsere Zeit, die zu iiberwinden wir aufgerufen werden.

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