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Der Vorhang fällt, die Mauern folgen

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Absclnedspremieren, Abschiedsvorstellungen und Abschiedscouplets, künstlerische Höhepunkte und exhibitionistische Tiraden, Ovationen und Sentimentalitäten bei jedem Anruf, kennzeichnen die letzten Tage des Tiroler Landestheaters. Und die Pause, die bevorsteht, für die Oper, die Operette und für das große Schauspiel, die Pause von drei bis vier Jahren, will niemand mehr wahrhaben, und die eingetrichterten Argumente von der Baufälligkeit des alten Hauses am Rennweg, von der finanziellen Zwangslösung (Jahressubventionen als Baukostenbeitrag), von der Unmöglichkeit eines Behelfstheaters usw. will niemand mehr hören. Mit den Mauern, die schon kurz nach Torschluß (20. Juli) fallen werden, fällt eine kleine Welt zusammen, in die die Innsbrucker beharrlich und dankbar geflüchtet sind.

Da war zuletzt als Höhepunkt des Schauspiels Gorkis „Nachtasy 1”, gestaltet von Professor Scharoff, dem Stanislawskij-Schüler und berühmten Interpreten Tschechows, Gorkis und Ostrowskijs. Scharoff verwandelte das Ensemble mit einem vitalen Diktat: „So geht kein Russe! So spricht kein Russe! So fühlt kein Russe!”, und so eilte er während einer Probe händeringend hinaus aus dem Theater und mitten hinein in eine Touristengesellschaft, die ihn als Attraktion zu applaudieren wünschte. Er stürzte wie gesteinigt in das Haus zurück und hämmerte weiter an Gorkis Lebensbildern, an den Gemälden aus Blut und Musik, in denen alle Verbrechen und Verwüstungen nur Irrfahrten zu den Sternen und Schattenspiele vor den Toren des Himmels sind. Siebzehn Gestalten aus der Unterwelt des Zaren, siebzehn zerlumpte Wahrheiten aus der Elendsfibel redeten zum Publikum und sangen ihre Lieder von den zerschellten Träumen. Und Bühnenbildner Josef Brun baute ihnen das winkelige und düstere Quartier ihres Schicksals, ein Meisterstück einer russischen Rumpelkammer mit Flaschenzügen und eingemauerten Visionen von Licht, Wärme und dem ewigen Frieden. Eine vierstündige Wanderung durch eine phosphoreszierende und melodische Verwesung, fast ein Kreuzweg für das Publikum, aber ein mächtiger Bann und Zusammenhang mit den Stimmen, Chören und Geheimnissen der Tiefe. Unanfechtbare Leistungen von Hans Stöckl (Schauspieler), Kurt Meystrik (Wajska Pepel), Josef Hauser (Pilger Luka), Hubert Chau- doie (Satin), Volker Krystoph (Baron), Ja-, rolnirl;Brgek (Bubnow)? ftntSiHiüdwift-. (Medwjedew)i> Edith ;BD4wersÄWs äi99) : Martha Kusztrich (Weib des Schlossers) und Ernst Auer (Herbergswirt).

Ein sehr mäßiger Erfolg wurde der mit lokalen „Lachbomben” garnierten musikalischen Komödie „Diekleine Traum- f a b r i k” von Elfers und Wichmann in den Innsbrucker Kammerspielen zuteil. Das Stück ist eine mit hübschen Melodien und Chansons veredelte Wirtschaftswunderpersiflage, ein kabarettistischer Perchtenlauf mit Filmgangstern, bürgerlichen Holz-

köpfen und politischen Sauerampfern, eine etwas gewaltsam zusammengeflickte Seelenschau der Eitelkeit, die davon lebt, daß alles, was geschieht, schon oft und sozusagen „überall” geschehen ist. Für eine Komödie zu dürftig und für ein Kabarett zu teigig, eine seltene Kombination von dramaturgischer Routine und thematischer Provokation. Gastregisseur Karl-Heinz König, dem die grotesken Szenen blendend geglückt sind, duldete leider den Einzug von Schaubudenreißern. Bei dem „lustigen” Vorspann mit dem Spruch „Mander, wollt ihr billigen Wein, so kaufet ihn am Brenner ein!” hätte man eigentlich das Theater schon verlassen müssen . . .

Eine bessere Traumfabrik ist unsere Operette, mit dem umschwärmten Heldenpaar Ralf Petri (Tenor) und Otty Drescher (Sopran), mit dem jungen Erfolgsregisseur Walter Siegel, dem versierten Ballettmeister Alexander Meißner und seiner Ballerina Karin Bahr, mit dem musikalischen Leiter Robert Filzwieser und dem Bühnenbildner Peter Mühler.

Eine Krise der Operettenkunst gab es in Innsbruck nicht, dafür aber ein ständiges „Besucherkontingent” aus München und Rosenheim. Zwei Premieren vor Torschluß, gerammelt voll und mit allen Aspekten eines aufgenötigten Abschieds; zuerst der „O r 1 o w” (Granichstaedten - Marischka), ein modernes Wohlstandsmärchen mit russischen Emigrantentränen und Glückshimmeln, und dann die „G o 1 d ‘ n e Meisterin” (Edmund Eysler), ein graziöses Porträt aus dem alten Wien, duftig und melodisch wie die Bilder Ferdinand Wäldmüllers. Beides Reprisen, aber genau getroffen in der sentimentalischen und komödiantischen Verführung, lauter Wegweiser für die Spaziergänge der Phantasie zu den unbesetzten Residenzen der Luftschlösser. Das Ensemble und das Publikum haben eindrucksvoll bewiesen, daß die „Märchentruhenromantik” der Operette noch immer ein Geschenk sein kann und eine Herrlichkeit für sich ... In den Abschiedstrubel fiel ein böses Gerücht: Im neuen Haus auf dem Rennweg (geplante Eröffnung Mitte oder Ende 1964) soll es kein Operettenensemble mehr geben. Die

Sparsamkeit erheische die Beschränkung auf klassische Operetten im Rahmen der Oper. Man will und kann daran nicht glauben.

Das Programm der letzten Wochen bringt als letzte Schauspielpremiere Clifford Odets Broadwayschlager „Das Mädchen vom Lande” in einer Inszenierung von Horst Kepka. Versprochen ist ein Abschiedsereignis mit dem Burgtheater in der „Antigone” von Sophokles, mit der Ausstattung Fritz Wotrubas. Versprochen ist weiter ein festlicher Abschied von der Oper mit Leonie R y s a n e k als „Turandot”. Versprochen ist — für die Zeit der großen Pause — ein hochqualifizierter Spielplan in den Kammerspielen unter Einbeziehung der Kammeroper und der „kleinen Operette” (sprich musikalisches Lustspiel). Und bereits angeboten von einem Münchner Reisebüro sind erstaunlich billige Theaterfahrten (inklusive der Karten) zu allen Vorstellungen des Münchner Theaterlebens. Man schickt — wie es in den Offerten heißt — den Omnibus „bis vor die Tür”, um „den Tirolern die jahrelange Entbehrung der Oper, der Operette und des großen Schauspiels erträglich zu machen” ...

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