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Der Wunsch der Armen

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Der Wunsch der Armen muß einmal die Reichen furchtbar anklagen. Da lebt ein Millionär, der unnötig viel Geld besitzt oder in einer Minute für eine Laune eine Summe ausgibt, die fünfzig oder sechzig Jahre lang Gegenstand der verzweifelten Wünsche eines armen Mannes war. Schon in Frankreich gibt es Hunderttausende von solchen Millionären, denn es ist nicht gerade notwendig, daß sie auch Millionen besitzen. Jeder Mensch, der außer dem, was zum körperlichen und geistigen Leben notwendig ist, noch etwas besitzt, ist ein Millionär und infolgedessen ein Schuldner derer, die nichts besitzen.

Allein der fleischgewordene Sohn Gottes hat ein Recht auf Uberfluß. Er war so über alles menschliche Maß bevorzugt, daß sein Vorrecht nur durch Offenbarung hat erkannt werden können. „Die Zahl der Geißelschläge, die der Erlöser am ganzen Leibe empfing“, sagt die berühmte Seherin von Agreda, „war 5115.“ Andere haben eine noch höhere Zahl angegeben. Die schreckliche römische Geißelung, wie sie in Judäa Brauch war, durfte 39 Schläge nicht überschreiten, quadragenas una minus. Das war der übertriebene Wunsch des Königs der Armen, sein Uberfluß. Die Zahl der Ohrfeigen, der Faustschläge und der Anspeiungen ist unbekannt, aber wir dürfen annehmen, daß sie im rechten Verhältnis zu den Geißelschlägen stehen muß.

Der Wunsch des Menschen ist der Mensch selbst, und der Wunsch des Gottmenschen war natürlicherweise, für alle Menschen Genugtuung zu leisten, um welchen Preis auch dieses Wunder zu wirken war. Deshalb sollte sich der Reiche vor allen Dingen seinen notwendigen Anteil an den Leiden des Armen wünschen und der Arme seinen notwendigen Anteil an dem Uberfluß der Tröstungen, mit denen der Reiche überhäuft wird.

Gibt es überhaupt einen Priester, der über folgenden Text zu predigen wagte: „Va vobis divitibus, quia habetis con-solationem vestram — Wehe euch, ihr Reichen, die ihr euren Trost habt!“? Das ist zu schwer, zu evangelisch, zu wenig liebevoll. Die Reichen verstehen nicht, daß auch die Armen Tröstungen und Freuden haben. Der Gedanke, daß ein Armer sich Tabak gekauft, oder eine Tasse Kaffe getrunken hat, ist ihnen unerträglich. Sie haben recht, ohne es zu wissen, da ja die Armen für sie leiden. Aber sie behalten ihren Trost für sich, ihren entsetzlichen Trost, und welch ein Todeskampf, wenn sie, da sie auf Grund unaussprechlicher Abrechnungen jedes Stückchen ihres mörderischen Reichtums abbüßen müssen, diesen Berg der Qualen auf sich zukommen sehen, ehe sie sterben.

Consolationem vestram. Welche Trostlosigkeit ruht auf umgekehrte Weise in diesem unauslöschlichen Wort und andererseits welcher Wunsch! Der Wunsch, Brot zu haben, ein wenig guten Wein zu haben, der das Herz erfreut, der Wunsch nach den Blumen und der Luft der Felder, nach allem, was Gott für die Menschen ohne Unterschied erschaffen hat; vor allen Dingen aber der Wunsch nach der Ruhe des Feierabends, wenn die Angelus-gloCke läutet. — Meine Kinder und meine Frau werden sterben, verurteilt von Tausenden meiner Brüder, die sie retten könnten, wenn sie nur das Fressen für einen ihrer Hunde weggäben. Ich selbst kann nicht mehr, mir ist, als hätte ich keine kostbare Seele mehr, eine Seele voll göttlicher Herrlichkeit, welche die Himmel nicht erfüllen könnten, die aber der Geiz der Erstgeborenen des Dämons blind, taub und stumm gemacht hat; doch den Wunsch, der mich quält, haben sie nicht töten können ...

Eine arme, alte Frau schuldet einer Dame an die zehn Franken. Die Dame sagt zu ihr: „Sie können mir kein Geld geben, Sie werden mir also Ihre Arbeit geben.“ Die Unglückselige, erfüllt von dem Wunsche, ihre Schulden zu bezahlen, arbeitet also; sie besorgt den Haushalt, die Wäsche, die Küche und die Näherei. So vergehen Wochen, Monate und Jahre.

Der Tod kommt. Sie schuldet immer noch die zehn Franken und obendrein eine ewige Dankbarkeit.

Die Schwachen unterdrücken, die sich nicht wehren können, das ist die abscheulichste Bosheit. Einem Kinde oder einem Greise das Brot wegnehmen und viele andere Bosheiten ähnlicher Art, die jeden empören, wenn er nur daran denkt, daß alles muß den Reichen in alle Ewigkeit haargenau und unerbittlich vorgeworfen werden.

Ich könnte zwei Reiche mit Namen nennen, einen Mann und eine Frau. Sie fordern von ihren Dienstboten, die oft gewechselt werden, weil Empörung und Entsetzen sie bald wieder fortjagten, daß sie alle Reste der Mahlzeiten, die oft beträchtlich waren, kaum angeschnittenes Fleisch oder Fisch, in den Mülleimer werfen. Außerdem geben sie den ausdrücklichen Befehl, die Reste zu zerschneiden, sie mit Kot und Petroleum zu beschmieren, damit gewiß niemand mehr davon satt, werden kann, nicht einmal die Hunde und Ratten. Derselbe ausdrückliche Befehl und dieselbe Kontrolle erstrecken sich auch auf die abgelegten Kleider. Diese Leute essen kaum etwas. Ihr Lieblingsgericht ist der Wunsch und die Enttäuschung der Hungrigen.

Ich habe, von der Prostitution des Wortes „Caritas“ gesprochen, das an die Stelle des viel demütigeren Wortes „Almosen“ gesetzt worden ist. Wer nicht ein ausgesprochener Bösewicht ist, gibt Almosen, das heißt, er gibt einen geringen Teil von seinem Uberfluß. Das ist die Lust, den Wunsch des Armen zu schüren, ohne ihn zu erfüllen. Der Almosengeber opfert die andern, das heißt er gibt das, was den andern gehört, denn das ist sein Uberfluß. Der liebende Christ aber gibt sich selbst, indem er das gibt, was er selber notwendig hat, und dadurch erst wird der Wunsch des Armen erfüllt. So sagt das Evangelium und damit basta. Jesus, der sein Fleisch und sein Blut geopfert hat, hat seinen Aposteln versprochen, daß sie die Richter der Erde sein werden. Der Apostel Judas, der sein Geld zurückgegeben hat, wird also diejenigen richten, welche „krepieren“, ohne es zurückzugeben. Die Redensart „er krepiert“ und auch „ihm platzt der Bauch“ muß im Tode des Verräters seinen Ursprung haben und paßt haargenau auf den Tod der Reichen.

Im Evangelium soll unbedingt von einem schlechten Reichen die Rede sein, wie wenn es überhaupt gute Reiche geben könnte. Der Text ist doch eindeutig: Homo dives, ein Reicher, ohne Beiwort. Es dürfte an der Zeit sein, mit diesem Pleonasmus aufzuräumen, der keinen anderen Sinn hat, als die Lehre des Evangeliums zum Vorteil der Armenfresser zu entstellen.

Ein schlechter Reicher — wenn man Wert darauf legt, diese beiden Worte zusammenzustellen — ist wie ein schlechter Beamter oder ein schlechter Arbeiter, das heißt wie ein Mensch, der sein Handwerk nicht versteht oder untreu ist in der Verwaltung. Der schlechte Reiche ist also derjenige, welcher gibt und durch viel Geben ein Armer wird, „ein Mann des Wunsches“, so wie der Prophet Daniel, der das Vorbild Jesu Christi war.

Das Prahlen mit dem Reichtum ist ein Menschenmord, wenn es nicht eine wilde und gefährliche Herausforderung ist. Man kann Veruntreuung auf Veruntreuung häufen und täglich gegen sich selbst ein Unmaß von Wutausbrüchen hervorrufen; aber es ist nicht notwendig, sich an dem Wunsche des Armen zu vergreifen, welcher der Augapfel Gottes ist, die Seitenwunde, aus der die letzten Blutstropfen seines Sohnes fließen.

Die Verspottung des Wunsches der Armen ist die unverzeihliche Bosheit, denn durch sie soll der letzte Funken der Fackel erstickt werden, die noch raucht und die nicht auszulöschen so sehr empfohlen ist. Das heißt die Zuflucht des armen Lazarus schänden, den Abraham in seinem Schöße verbirgt.

Aus dem Buch „Das Blut des Armen“, Verlag Anton Pustet, Graz-Salzburg

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