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Der Zusammenstoß

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THEMA: „Der fahrplanmäßige D-Zug 147 stieß gestern auf der Verbindungsbahnstrecke in der Nähe des Wärterhäuschens T 22 infolge falscher Weichenstellung auf einen stehenden Güterzug. Die D-Zug-Lokomotive und drei Güterzugwagen entgleisten, doch kam es weder zu Sachschaden noch zu Verletzungen.“

1. Variation

„Von den Weichen“ — Aus „Also sprach Zarathustra“ — frei nach Nietzsche

Als Zarathustra sich den Vororten näherte, fragten ihn seine Jünger, ob er die Bahn besteigen wolle. Er aber besann sich und sprach: „Sagt mir doch, meine Brüder, wohin, dieser Zug mich führen soll. Ist er ein Pfeil, der die Herzen öffnet? Rußig ist er und starrend vor Schmutz. Nicht frommt mir dieser Zug, denn ich singe euch vom Uberzug. Nicht soll Zarathustra von Wagen getragen werden, deren Schienen die vielen gelegt haben. Zum Ziele gelangen will ich auf meinen Beinen, den Überbeinen des Übermenschen, den ich euch lehre.“ Da donnerte der Zug heran. Zarathustra aber lachte bei sich im Herzen. Und es tanzte der Zug vor Zarathustra und sprang aus den Gleisen.

Da schwieg Zarathustra eine Weile und sah voll Liebe auf den Zug. Dann redete er also zu seinen Jüngern:

„Wahrlich, meine Brüder, es gilt ein anderes Fortfahren als das weichliche Fortfahren im großen Zuge. Nicht fort sollt ihr fahren, sondern hinauf, nicht der nächsten Station entgegen, sondern der fernsten. Die Weichen zu stellen, frommt nicht dem Wissenden. Stellt mir die Harten, meine Brüder. Brücke will Zarathustra sein, Seil zwischen den Abgründen und nicht Verbindungsbahn.“ Also sprach Zarathustra.

2. Variation

„Der Weichensteller“, Fragment — frei nach Franz Kafka

Der Weichensteller F. sah das Wärterhaus mit den erleuchteten Fenstern klar vor sich in der Höhe oben. Ein gewundener Weg führte hinauf, dessen obere Strecke ganz deutlich war. Aber der Einstieg lag im Dunkel, und je näher er dem Hügel kam, um so finsterer wurde es rings um ihn. Ein Signal klingelte durch den Nebel. Es war Zeit, die Weiche zu stellen. Vor dem nahen Wirtshaus hielt ein Schlitten, dem zwei Männer mit Pelzmützen entstiegen. „Haben Sie den Stationsvorstand gesehen?“ fragte F. atemlos. „Man kann ihn nicht sehen“, antwortete der größere, bärtigere von den beiden. „Aber wissen Sie, wie man zum Wärterhaus kommt?“ — „Einmal wollte auch einer hinauf“, sagte der Jüngere,

„das war vor Jahren, und vorige Woche haben wir ihn noch immer im Wirtshaus gesehen. Manchmal kommen Boten von oben zu uns herunter, aber niemand weiß, was sie bringen. Sie reden nur mit dem Wirt selber.“ — „Wie kommt man zum Wirt?“ — „Er schläft. Man kann ihn nicht wecken.“ Die beiden traten ins Wirtshaus, aus dem Dunst und der Lärm erregter Gespräche drang. F. wollte eintreten, aber der Landesvermesser hielt ihn auf. Er deutete auf das Wärterhaus, das hell und strahlend ganz nahe schien. „Ich muß die Weiche stellen!“ keuchte F. „Das dort oben ist die Hauptstrecke. Man muß erst die Nebenstrecke begehen. Audi mir hat man die Zulassung zur Hauptstrecke längst in Aussicht gestellt. Aber ich bin seit meiner Ankunft noch nicht über die erste Nebenstrecke hinausgekommen. Sie- lassen sich, Zeit im Hauptstellwerk.'*

3. Variation

„Sonett für einen Bahnbediensteten“ — frei nach Rilke

Als hart* er, um dem Übermaß des Fragens

Die letzte Antwort jäh vorwegzunehmen,

Uneingedenk des steilen Hebelragens,

Beschlossen, sich dem Drüben zu bequemen.

Als taumle er des allerletzten

Wagens Verworren müdem Puffer voll

Emblemen Entgegen, kaum gewärtig seines

Klagens, Bekränzt mit nie geschauten

Diademen,

So fuhr der Heizer, seinem Selbst verloren,

Auf daß er sehr geheimer Größe diene,

Vorbei an quergestellten Semapho-ren.

Ritt träumend auf dem schnellsten der Delphine,

Sah sich in tausend Stürzen neugeboren,

War nicht mehr Schranken und war nur noch Schiene.

4. Variation

„Der Unterbau“, unveröffentlichtes Kapitel aus dem Roman „Der Engel mit der Posaune“ — frei nach Ernst Lothar

Der Brünner Schnellzug hielt einige Zeit in Wien, ehe er nach Paris weiterfuhr. Vom Nordbahnhof, wo die nur bis Wien fahrenden Reisenden ausstiegen, wurde er über die Verbindungsbahn bis zum Westbahnhof geführt, wo die neuen Fahrgäste zustiegen.

Henriette hatte Glück. Sie wurde in ihrem Fiaker weder von Gustav

Mahler, dem gefeierten und angefeindeten Operndirektor, gesehen noch vom jungen Maler Oskar Kokoschka, dessen erste Porträts den Gesprächsstoff einer empörten Gesellschaft bildeten. In der Theobaldgasse instrumentierte ein junger Militärkapellmeister namens Franz Lehär eben die Partitur seiner „Lustigen Witwe“, die ihn weltberühmt machen sollte, während schräg gegenüber Julius Korngold eine seiner Musikkritiken für die „Neue Freie Presse“ schrieb. All dies wußte Henriette nicht, aber der Fiaker machte trotzdem eigens den Umweg durch die Theobaldgasse, um diese Feststellung zu ermöglichen. Plötzlich wurde der Wagenschlag aufgerissen, und der Erzherzog Thronfolger Franz Ferdinand stieg zu Henriette. Er war so blaß. Seine Lippen hatten ein leichtes Zucken, wie bei jemandem, der nicht weinen will.

„Wie geht's?“ fragte er. Eine unwiderstehliche Stimme. „Bist hoffentlich nicht krank“, sagte sie.

„Hast dich verlobt?“ fragte er. Sie rührt sich nicht. „Ich hab' mich deinetwegen scheiden lassen wollen“, sagte er. Nein! wehrte sie sich schweigend. „Ich wollt dich heiraten“, sagte er. Nichts sehen! Sie schloß die Augen. Draußen auf der Mariahilferstraße ging Hans Müller vorüber, dessen Schauspiel der letzte Erfolg des Burgtheaters gewesen war. „Warum sagst du nichts?“ fragte der Thronfolger bitter. Nein! Nichts sagen. Was wußte denn er? In dem Haus, wo sie wohnen sollte, hatte der Mozart die „Zauberflöte“ vorgespielt, dem Beethoven war dort seine „Fünfte“ eingefallen, der Schwind hatte dort gemalt und der Grillparzer die „Medea“ vorgelesen. Später einmal würde der Wildgans, der Schnitzler, der Hofmannsthal dort aus und ein gehen, ganz en passant, und der Professor Freud würde kluge Bemerkungen über ihren Sohn machen. Der Strauß würde zu ihrer Lope hinaufgrüßen und die größten Pianisten würden sich von der Klavierfabrik ihres -;-

Mannes beliefern lassen. In seinem Klavierlager war Österreich. Sie schwieg noch immer. „Also nein?“ keuchte er fast hektisch. Seine Stirn war feucht. „Das ist absurd.“

So hatte sie der andere Thronfolger gefragt, der Rudolf, der dann ihretwegen gestorben war. So hatte der alte Kaiser Franz Joseph sie gefragt, als er um ihretwillen der Schratt den Abschied geben wollte. So würde sie der nächste Thronfolger, der junge Karl, fragen und dann aus Trotz die Zita heiraten. Die ganze Weltgeschichte schien sich nur um sie zu drehen. ,

„Hörst du zu?“ fragte er. „Ja“, sagte sie. „Absurd.“ „Adieu“, sagte er und stieg aus. Der Zug hatte Verspätung. Irgendein harmloser Zusammenstoß, ein schadhafter Unterbau auf der Verbindungsbahnstrecke war schuld daran. Im Wartesaal saßen Realschüler, die von einem Ausflug zurück nach Linz fuhren. Der Professor verlas eben die Namen. Christ Alois, Ebeseder Heinrich, Gamilschegg Kurt, Goldschmied Emil, Hitler Adolf, Hutter Heinrich. Es schien die A-Klasse zu sein, denn nach dem H kam kein Name mehr.

„Saukerl!“ sagte eben einer von den Schülern.

Schlechtere Zähne hatte Henriette nie gesehen.

Als der Zug endlich einfuhr, kam Henriette mit sieben Herren in ein Coupe zweiter Klasse. Die Herren stellten sich vor: „Gustav Klimt.“ „Anton Bruckner.“ „Hermann Bahr.“ „Leo Slezak.“

„Doktor von Wagner-Jauregg.“ „Josef Kainz.“

Den Namen des siebenten Herrn verstand sie nicht. Er war es, der das Gespräch eröffnete und seinen Mitreisenden zu erklären begann, was Österreich ist.

Henriette war beruhigt. Zum erstenmal seit ewig langer Zeit. Sie hatte das schon immer genau wissen wollen. Nun würde sie es endlich erfahren. *u j.ä,v; ~ .

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