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Die AAasIcen

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Der Richter schälte die Orange mit gemessenen, mit abgezirkelten Bewegungen. Er bediente das silberne Obstmesser wie ein chirurgisches Besteck. Die gute, dicke, rotbraune Schale der Frucht sprang unter den sicher geführten Schnitten ‘in gleichmäßigen, hübschen Lamellen auf, öffnete sich wie eine derbblättrige, exotische Blüte.

Die junge Gattin des Richters ging mit schwebenden Schritten an das Klavier und begann eines ihrer klangvollen, sentimentalen Liedchen zu spielen.

Die in jeder Lebenslage kerzengerade aufgerichtete Lehrerin des Lyzeums blickte, von den Tönen des Klaviers getroffen, schmerzlich zur bräunlichen Balkendecke des Salons empor.

Der frischwangige Journalist, eine politische Hoffnung des Kreises, lehnte salopp in seinem Stuhl und ließ eine Zigarette schräg und aufreizend aus seinem Mundwinkel herabhängen.

Der Sohn des Richters, Student, nervös, schwarzäugig, schmallippig, düster, betrank sich.

Er betrank sich und nahm sich vor, seine Maske fallenzulassen. Die säuer liche Lehrerin blickte ihn erschreckt an. Der Journalist schaukelte in seinem Stuhl und hatte plötzlich einen höhnischen Ausdruck um den Mund. Das Gesicht des Richters blieb unbewegt, aber in seinen Augen malte sich Besorgnis.

Der Student sagte nichts, er trank schnell und rücksichtslos. Er stieß seine Gedanken wie Schwerter in die Gesichter der vier Menschen. Er sagte nichts, die Unruhe, die er verbreitete, ging von seinen Gedanken aus?

Er trank und spürte, wie seine Nerven in Schwingungen gerieten. Er sah die Dinge doppelt.

Die blasse Maske der jungen Stiefmutter, festgenagelt im Lichtkreis der kleinen Lampe am Klavier. Die schwere, breite Maske des Vaters, der die Frucht sorgsam in appetitliche Teile zerlegte und diese ruhig an die beherrschten Lippen führte. Die rosigen Wangen des Journalisten, der mit hochmütig erhobenem Kinn Sätze sprach, die wie neu klangen. Die gründliche Larve der schmalbrüstigen Lehrerin, die mit starrem, konventionellem Lächeln dasaß und ihre unruhigen Spinnenfinger zwang, still neben der Serviette zu liegen.

Hinter den Masken, zitternd und undeutlich wie Irrlichter im nebeligen Moor, erkannte der Trinkende ihre sonderbaren Schatten.

Der Schatten des Journalisten floh ängstlich in eine Ecke des Raumes. Dort saß er, verschreckt wie ein Kind, das plötzlich gezwungen wird, von der Bühne des Schultheaters herab lateinische Verse zu deklamieren.

Der Schatten der Lehrerin blickte, trostlos und verlangend, nach der Maske des Journalisten, das schmale, verknitterte Gesicht aller frömmelnden Säuerlichkeit entkleidet, hungrig und fahl.

Der Schatten des Richters sank in sich zusammen, kniete auf dem Teppich und erhob betend die Hände zur Decke.

Vom Klavier her dringen grauenvolle, zerrissene Töne.

Der Student trinkt wütend.

.Uber das Pensionsgesetz werden ie stolpern , sagte der Journalist kalt und steckte sich eine neue Zigarette an.

Sein Schatten in der Ecke dės Raumes windet sich, schreit: „Warum, warum haben sie mich nicht Gärtner werden lassen! Mit dem Spaten die schwarze Erde umstechen, die schwarze Erde mit dem blanken Spaten umstechen...“

Die Maske des Richters sagte: „Wir Richter wissen genau, zu wem wir halten müssen, wer denn sollte das wissen, wenn nicht wir.“

Der Schatten des Richters flüstert: .Ich hätte es niemals tun dürfen, o Gott, ich wußte, daß sie mich nicht liebt, sie verkümmert in diesem Haus.

Der Schatten der jungen Stiefmutter erhebt 6ich vom Klavier, tritt an das Fenster, öffnet die Fensterflügel, steigt mit brennenden, irrsinnigen Augen auf das weißlackierte Fensterbrett.

Ihre Maske am Klavier, lächelnd, spielt ein Wiegenlied.

Der Schatten der Lehrerin schwankt wie ein bleiches Segel durch den Raum. „Wollen Sie nicht meine Briefmarkensammlung sehen?“ fragt sie mit hohler Stimme den Journalisten, „ich schwöre, daß ich Ihnen eine treue Gattin sein würde.

Die Maske der Lehrerin lächelte frostig: „Ich trinke den Tee am liebsten ohne Zucker.“

Der Student steht auf. Er schwankt „Reißt euch die Masken vom Gesicht“, will er sagen, „reißt die Masken ab, verbrennt sie, sie taugen nichts …“

Aber er sagt es nicht. Er weiß, daß man ihn nicht verstehen würde, wenn er jetzt etwas sagte!

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