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Die helle Stunde

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Dora hielt im Umgraben inne und richtete sich auf.

Der Nachmittag hing golden über der frühlingshaften Erde. Die Bäume am Ende der Hausbünt hoben ihre blühenden Kronen reglos ins Licht; es lagerte wie ein schimmerndes Gewölk vor der grünen Halde. Von den Wiesen über dem Wege läuteten vielstimmig die Kuhschellen. Die braunen Leiber der Tiere glänzten in der Sonne.

Dora setzte den Fuß wieder auf den Spaten, unangerührt von dem innigen Leuchten des Tages.

Heute komme ich nicht mehr zum Nähen, dachte sie. Es geht gut, wenn ich fertig werde, bis der Bub das Vieh heimbringt.

Mit kräftigen Armen hob sie die schweren, feuchten Schollen um und zerschlug sie flink.

Dann verdiene ich wieder nichts! Sie wurde völlig ärgerlich bei dem Gedanken. Man kommt zu gar nidits mehr mit dieser Feldarbeit. Fast die ganze Woche habe ich mich jetzt versäumen müssen.

Der Wind strich um die Hausecke her. Der brachte einen zärtlichen Hauch mit sich, Geruch von jungem Laub und Apfelblüten. Er wurde ordentlich zutraulich und fuhr der Gärtnerin schmeichelnd um die roten Wangen.

Aber die hatte auf sein Tändelspiel nicht acht. Sie sann dem Geide nach, das sie in dieser Zeit verdient hätte und nicht hatte. Sechs Schilling brachte Dora im Winter mit Nähen her, neben der Stallarbeit, jeden Tag. Und jetzt war sie an den Verdienst gewöhnt.

So ist es mit dem Geld, man bekommt nie genug.

Dora sei zu sehr uf das Geld aus, sagten die Nachbarinnen. Es war nicht gelogen. Aber das bedachten die Frauen nicht, daß der Mensch etwas haben muß, woran er sein Herz hängen kann.

Es hätte ganz anders sein können! Ja, es wäre sicher anders gekommen, wenn Micheles Bartle getan hätte, wie es sich gehört, und die Dora nicht stehen gelassen hätte. Dem war es auf einmal eingefallen, daß er eine Jüngere haben sollte.

Dora konnte nichts dafür, daß es so gegangen ist! Ihr Herz hat der Liebe entsagt für immer. Sie meint es wenigstens. Aber das weiß sie nicht, daß ein Herz gar nicht aufhören kann, zu lieben.

Und darum schlug Dora jetzt heftig auf die Schollen ein und sann den dreißig Schil- /ing nach und sah gar nicht, wie die Welt blüht" im Lichte des Frühlings. Wie es in hellen Schleiern über die Buchenhänge wehte und aus dem ernsten Tannenwalde aufschlug in goldenen Lohen. Und wie der Himmel sich über die Berge herwölbte mit einem klaren, festlichen Glanz.

Dora verhielt wieder und schaute auf, und da stutzte sie. Lief da nicht der jüngste Sattlerbub über die Hofstatt her! Es stieg etwas wie Unwille in ihr auf. Jetzt werden die Rangen wieder herüberkommen!, Da wird bald wieder ein Fenster hin sein oder sonst etwas verdorben!

Sie hatte es der Sattlerin gesagt, daß sie die Buben nicht mehr auf ihrer Hausbünt wolle. Man geriet bloß in Streit.

Im Herbst waren sie gehörig hintereinandergekommen, die Nadibarin nahm ihr die Zeit heute noch nicht ab. Wenn einem die Buben Äpfel von den Bäumen schlagen, wird man wohl noch ein Wort sagen dürfen, oder?

Aber die Sattlerin war gleich pfützauf gewesen. Sie könne die Buben nicht an den Ofenfuß binden oder den ganzen Tag mit der Geißel hinter ihnen her sein. Das werde .Dora auch einsehen. Und wegen der paar grünen Bollen werde auch nicht alles hin sein.

Ein Wort gab das andere, wie es eben geht. Die Sattlerin mußte hören, daß sie mit ihren ungezogenen Bälgen den Nachbarn bloß zur Last sei.

Dora hinwiederum erfuhr, daß sie zu denen gehöre, die alle Tage in die Kirche springen und daneben die anderen Leute am liebsten aufhängen möchten.

Sie wolle die Buben nicht mehr auf ihrer Hausbünt sehen, hatt Dora zum Sdiluß noch einmal gesagt, bevor sie die Tür zuschlug und ging.

Sie warf wieder einen Bück über den Hag. Das Kind kam langsam über die Hofstatt her. Sein weißblondes Haar schimmerte in der Helle. Auch um die Nasengegend verbreitete sich ein feuchter Schimmer, aber das machte dem Josefle nichts aus. Er hielt ein Rütlein in der Rechten, das schwang er lustig in der Luft.

Den Kleinen habe ich sonst nicht ungern mögen, dachte Dora jetzt, besänftigt durch den drolligen Anblich des Bübleins. Der hat mir auch noch nie etwas verdorben, fiel ihr ein.

Als Dora sich wieder aufrichtete, sah sie das Kind am Zaune stehen. Es schaute sie aus seinen großen Blauaugen treuherzig an und lächelte.

Wie er gewachsen ist über den Winter!

Das Kind blieb eine Weile schweigend stehen.

„Was tust du?“ fragte es jetzt.

„Umgraben“, sagte Dora.

„Wie umgraben?

Der Kleine ging, das Geflecht mit den Fingern abstreifend, am Zaun entlang und summte dabei. Dann kam er wieder zurück und drückte von neuem das Gesicht an das Gitter.

„Lug, was habe ich!“ sagte er, als sich Dora umwandte. Er wies in seiner Linken etwas Braunes her.

„Das habe ich gefunden.“

Seitdem der Schnee weggeschmolzen war. befand sich das Josefle alltäglich auf weitgedehnten Streifzügen, und wenn es heimkam, dann brachte es die seltsamsten Fundstücke mit. Nidit zu glauben w ar es, was Wiese, Bach und Brunnen so einem rotz- näsigen Büblein an bunten und raren Dingen hergaben! — Da fand er ein leeres Schneckenhäuslein, dort eine glänzende, prächtig geschweifte Giggeierfeder, allerhand farbige Steine. Gestern hatte es in der Nähe eines nachbarlichen Misthaufens sogar einen Hennenfuß aufgelesen. Mit dem war es gleich heimgelaufen und hatte ihn triumphierend der Mutter gezeigt.

Das Büblein setzte sich vor dem Garten ins Gras und spielte.

„Der Hubert hat das große Ritaroß hingemacht“, sagte es. Auf einmal war ihm die traurige Gewalttat seines Bruders eingefallen.

„So“, sagte Dora.

„Ja, mit einer Hacke“, berichtete der Kleine.

Ja, wenn man mit einer Hacke hinter das Ritaroß gehe — meinte Dora. Und sie dachte, wie doch die Sattlerin gar keine Ordnung habe und die Buben tun lasse, was sie wollen. Diese jungen Weiber können gar keine Kinder aufziehen. Wie gut es doch wäre, wenn der Sattler bald aus der Gefangenschaft heimkäme und nach dem Rechten sehen könnte.

Das Büblein blieb vor dem Garten sitzen und plauderte. Als Dora mit der Arbeit fertig war und herauskam, stand es auf und trippelte ihr nach.

Sie trat zum Brunnen und wusch die Hände.

Das Josefle klapperte im Stadel herum und fitzte mit dem Rütlein. Auf einmal hatte es etwas erspäht. 2s lief auf die Blech- sdiüssel zu, die auf dem Holzsims neben der Haustür stand, und schaute neugierig hinein.

Als Dora, die Hände an der Rupfen schürze abtrodtnend, hereintrat, sah sie den Kleinen aus dem Hennenscherben schmausen, Zieger und geriebene Grundbirnen.

„Laß das sein!“ sagte sie. Aber er langte von neuem in den Napf. Sie wollte ihn wegziehen, jedoch die heiße, klebrige Kinderhand entwand sich heftig ihrer Linken.

Als sie ins Haus ging, da schlüpfte auch das Kind schnell aus seinen Holzschuhen und lief hinter ihr herein.

Dora zog die Rupfensdiürze ab und hängte sie ans Geländer. Die Gartenarbeit hatte Hunger gegeben. Sie ging in die Küche. Es war gerade noch Zeit, um etwas zu essen. Bald würde der Hütbub kommen und man mußte melken.

Das Josefle war gleich auf die Bank geklettert; nun saß es und schaute erwartungsvoll auf das Mädchen. Dora nahm zwei Schalen aus dem Kasten und stellte sie auf den Tisch. Dann brachte sie einen Hafen mit Milch aus dem Stüble.

Als sie die eine Schale füllte und sie dem Kleinen hinstellte, da legte er geschwind sein Rütlein auf die Bank und griff mit beiden Händen zu. Sie strich ihm auch ein Butterbrot.

„Aber zuerst muß man dir noch die Nase putzen“, sagte Dora und zog da.; Schnupftuch aus dem Joppensack. Er ließ es willig geschehen.

Aber dann machte er sich mit Gier über die Schale. Er trank die Milch in großen Schlucken, stopfte Brot in den Mund, daß er kaum zu kauen vermochte. Er schnaufte und würgte und blickte nicht mehr um.

„Der Büb hat Hunger“, dadite Dora.

Bei ja und nein war die Schale leer und das Brot verschwunden.

Das Kind sah seine Gastgeberin fordernd an.

„Mehr“, sagte es.

Sie goß noch einmal Milch in die Schale und gab ihm ein zweites Brot. „Du mußt aber ordentlich essen“, sagte sie.

Er schlürfte die Milch mit Gier wie vorher und kaute und schnaufte.

Die Schale war wieder leer. Es lehnte sich an J!ie Wand zurück und atmete tief auf.

„Und jetzt — hast du genug?“ fragte Dora.

Das Büblein nickte. Nagte an dem Rest der Brotrinde.

Wie sie das Kind betrachtete, wurde Dora auf einmal so froh wie schon lange nidit mehr. Sie wußte selber nicht warum.

Es saß schweigend und ließ die Augen rundum gehen. Es schlenkerte vergnügt mit seinen braunen, schmutzigen Beindien.

Still war es in der Küche und kühl. Irgendwo stimmte eine Fliege. Das Gebimmel der Kuhschellen tönte fern und abgerissen durch das halboffene Fenster.

Jetzt rutschte das Josefle aus seinem Winkel und griff nach dem jRütlein. Es glitt von der Bank. „Idi muß heimgehen."

Es lief zur Tür und auf die Zehenspitzen sich stellend, drückte es die Klinke nieder.

„Morgen kommst du wieder, gelt!“ sagte Dora. Sie wußte selber nicht, warum ihr das über die Lippen kam.

Das Büblein kehrte sich unter der Tür um. „Ja!“ Es strahlte über sein ganzes rundes Mondgesichtlein.

Ihr wurde ganz eigen ums Herz bei diesem Kinderlächeln.

Und dann saß sie wieder allein. Ihr war, als sei ein Helles von ihr fortgegangen.

Dora räumte den Tisch ab. Darauf trat sie ans Fenster und schaute dem Büblein nach, wie es über die Büpt höselte.

Der Bub hat Hunger. S o aß nur ein Kind, das nie satt wurde. Vier Buben essen viel. Wie wird die Sattlerin sie durchbringen bei diesen Zeiten?

Ja,.so weit dachte Dora auf einmal. Und es fiel ihr ein, wie schlecht die Nachbarin aussehe.

Seit dem Tag im Herbst hatte sie ihr keinen guten Gedanken mehr geschenkt, aber nun mußte sie an das bleiche Gesicht des jungen Weibes denken. Und nodi anderes kam ihr in den Sinn.

Das Josefle war durch eine Haglucke geschloffen und unter dem großen Birnbaum verschwunden.

Aber Dora stand noch immer am Fenster. Ihr war, sie habe mit verbundenen Augen gelebt und nun sei ihr plötzlich wie von unsichtbarer Hand die Binde fortgenommen worden.

Viele Leute litten Mangel. Die Sattlerin, die allein da?tand mit den Kindern — sie hatte es nicht leicht. Dora begriff das mit einem Male. Agath, die andere Nachbarin, fiel ihr auch ein, sie hatte schon so oft gejammert.

Man dadite viel zu enig daran. Ich habe immer nur mir selber abgewartet, sann Dora.

Es läßt sidi schwer sagen, was sie alles empfand, während sie verweilte und in den leuditenden Abend hinaussah.

Das Sattlerbüblein würde morgen wiederkommen. Sie war so froh darüber.

Jetzt läuteten die Glocken der heimkehrenden Kühe vor dem Hause auf.

Dora ging hinaus. Man mußte dem Hütbuben die Tiere anhängen helfen.

Als sie an der Kellerstiege vorbeikam, fiel ihr ein, daß sie dann grad noch einen Korb Erdäpfel herrichten könnte — für die Agath. Der muß man audi ein bißchen aushelfen, dachte Dora.

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