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Die Kunst, zu überleben

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Die Künstler glauben für die eigene Unsterblichkeit zu leben, was zweifellos stimmt, egal wie lange sie dann hält.

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Die Künstler glauben für die eigene Unsterblichkeit zu leben, was zweifellos stimmt, egal wie lange sie dann hält.

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Wie das Wort zeigt, ist Kunst dazu da, Kunststücke zu vollbringen. Es heißt, daß „Kunst“ von „Können“ kommt. Das klingt logisch, ist es aber nicht. Es ist doch kein Kunststück, etwas zu schaffen, wenn man es kann — ein Kunststück ist es erst, wenn man etwas schafft, was man nicht kann. Das größte Kunststück ist, als Künstler zu leben und zu überleben.

Es gibt zweifelsohne wichtige, unentbehrliche Künste, wie eben die Kunst des Überlebens. Zu ihren unzähligen Gattungen und Untergattungen gehört zum Beispiel die Kunst des Schweigens und des Redens im richtigen Moment. Wohl auch die Kunst des politischen Kampfes um Positionen - sie verschafft den Unterhalt, also das Überleben, vielen menschlichen Individuen, die sonst unfähig wären, sich zu ernähren.

Um sich von den wichtigen und unentbehrlichen zu unterscheiden, heißen die anderen Künste „die Schönen“. Schönheit ist ja keine Lebensbedingung, man kann ganz schön ohne sie leben. Selbst Frauen und Männer müssen nicht schön sein. Wenn man nichts Besseres findet, findet man das schön, was man haben kann. Man gewöhnt sich - zumal der Betrachter selbst entscheiden kann, was und wen er als schön betrachtet. Dies gilt nicht nur für Frauen und Männer, sondern auch für Kunstwerke. Als Beispiele können die Situation von einem Mann und einer Frau dienen, die lange allein auf einer Insel leben, oder der Eiffelturm, gegen dessen Häßlichkeit seinerzeit ganz Paris protestierte, und ohne den man sich heute Paris nicht vorstellen kann. Oder die Musik der primitiven Bewohner irgendeiner Palmeninsel, die einen feinsinnigen europäischen Musikliebhaber auf alle Palmen auf einmal bringen könnte - wie mich Heavy Metal und ähnliche lautstarke -Scherze —, den Einheimischen aber gefällt. Frage man die Künstler, ob ihre schönen Künste entbehrlich seien, werden sie heftig protestieren. Mit Recht. Für sie ist die Kunst eine unentbehrliche Bedingung nicht nur des geistigen, sondern auch des physischen Überlebens, denn sie ernährt sie - ob recht oder schlecht.

Wozu aber braucht ein Nichtmusiker Musik, ein Nichtdichter Poesie, ein Nichtmaler Bilder? Selbst die praktischste der schönen Künste, die des Bauens, hätte nicht sein müssen. Die Menschen lebten in Höhlen um viele Jahrtausende länger als sie in Häusern wohnen. Für die heutige Masse Mensch gäbe es freilich nicht genug Höhlen. Hätten aber die Baukünstler unsere Ahnen nicht aus ihren Löchern herausgelockt, könnten wir uns unmöglich so vermehren. Was vielleicht für die Mensch heit besser gewesen wäre, und ganz bestimmt für die Natur.

Und doch — Künstler gibt es seit Jahrtausenden, und nur wenige sind — trotz den verbreiteten Legenden — vor Hunger gestorben. Wenn die Menschheit die Künstler ernährt, dann braucht sie auch die schönen Künste, umsonst gibt es nichts.

Wozu? Jeder Mensch braucht zum Leben die Bestätigung, daß er wer ist, daß er ein Mensch ist. Wenn man ihm Schönes bietet, Schönes, das man nicht essen kann und das nicht vor Kälte schützt, gibt man ihm die Bestätigung, daß er nicht nur ein nackt existierendes armseliges Lebewesen ist. Wenn man ihm Unterhaltung bietet - merke man sich die Wurzeln „Halt“ in diesem Wort, die sich auch in dem Begriff „Lebensunterhalt“ befindet - gibt man ihm die Gewißheit, daß er wer ist, da sich andere, nicht unbedeutende Menschen bemühen, ihm ein Vergnügen zu verschaffen. Wenn man ihm Denkanstöße liefert, erhöht man ihn zu einem denkenden Wesen. Und, wenn man ihn in einem Porträt, in einer Büste, in einem literarischen Werk, in einer ihm gewidmeten Komposition oder in einem für ihn gebauten Haus verewigt, schenkt man ihm ein Stückchen Unsterblichkeit, also des Überüberlebens.

Die Künstler glauben für die eigene Unsterblichkeit zu arbeiten, was zweifellos stimmt, egal wie lange sie dann hält; sie schenken aber auch kleine Stückchen der Unsterblichkeit anderen Menschen und große Stücke der Menschheit und dem Menschsein. Man sieht, daß die Menschen nicht so schlecht sind, wie man allgemein glaubt. Sie sagen einem in jedem Alter, was er — wie sie meinen - gerne hört.

Trotzdem, wenn man mir bei einer Party fünf-, sechsmal gesagt hat, daß ich gut aussehe, werde ich ein wenig traurig. Habe ich diesen Zuspruch tatsächlich nötig?

Ich schaue unauffällig in den Spiegel. Nun ja: Gut siehst du aus, Alter!

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