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Die zauberhafte Ungeheuerlichkeit

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DIE SCHÖNSTE, DIE ZAUBERISCHSTE UNGEHEUERLICHKEIT, unwahrscheinlicher als das geflügelte Pferd und verführerischer als die fischleibigen Sirenen, das ist die O p e r. Es ist die merkwürdigste Zusammenhäufung von Maschinerien, Musikinstrumenten, Leinwand, Farbtöpfen, Scheinwerfern, Arbeitern, Sekretärinnen, Technikern, Souffleuren, Korrepetitoren, Musikern, Tänzern, Sängern und ihren heißblütigen, leidenschaftlichen Beschwörern, den Dirigenten, Regisseuren und Ballettmeistern, die eine kameradschaftliche und wilde Tyrannis auszuüben pflegen und ihrerseits nur von einsamen und allwissenden Göttern gebändigt werden können, die mit dem Titel eines Generalintendanten geehrt werden, weil oder damit sie dieses unbeschreibliche Kunststück zusammenbringen.

DIE OPER IST EIN HIMMEL, angefüllt mit Hoffnungen, Träumen, Tränen, Verschwörungen, Ueberraschungen, Illusionen, Schlamperei und Genauigkeit, ein Himmel, in dem die Sterne selbst am vergänglichsten sind und in dem nur die Verzauberung ewig zu sein scheint, die von ihm ausstrahlt, ewig wie die Nervosität und der Krach auf den Generalproben oder der Gestank nach frischem Leim bis zur zehnten Parkettreihe in den Premieren; ein Himmel, in dem jeder als Axiom und Dogma verkündet, daß er allein mehr bedeute als der Erzengel Gabriel und der liebe Gott zusammengenommen, womit obendrein noch beinahe jeder recht hat. Ganz im Recht wären mit einer solchen Behauptung allerdings nur die Chefsekretärinnen der Operndirektionen, die aber nie davon reden, weil sie allein ausreichend beschäftigt sind. Sie organisieren das ununterbrochene Gesumme in den Telephondrähten zwischen unseren Opernhäusern und senden ohne Unterlaß gleichmütige SOS-Rufe aus, um fremde Tenöre anzulocken als Ersatz für die eigenen, die gerade abgesagt haben. Sie geben sich dieser Beschäftigung mit einer ruhigen Standhaftigkeit hin, die in einem bemerkenswerten Gegensatz steht zu der unberechenbaren Hitzigkeit, die das künstlerische Personal so gefährlich macht. Sie sind Hoffnung und Trost der Enttäuschten, bereitwilliger Spiegel der Erfolgreichen, sie sind Riegel und Schloß an den Türen der einsamen Götter, die stillsten Ratgeber ihrer ratlosen Stunden und die lautesten Bewunderer ihrer salomonischen Entscheidungen.

DAS ENTSCHEIDENDE AN DIESEN ENTSCHEIDUNGEN aber ist, daß sie selten unabänderlich bleiben, daß sie vielmehr durch einen rasenden Wirbel von Zufällen, Einfällen, Durchfällen, Urlauben, Erkrankungen, Absagen, Zusicherungen, Launen und Verträgen starke Veränderungen zu erleiden pflegen, so daß man sich bei der Oper auf nichts mehr verlassen kann als auf den unzuverlässigsten Wechsel. Freilich trifft dies alles auch auf das Sprechtheater zu, aber nicht entfernt im gleichen Umfang wie auf die Oper, da die Oper eben die höchste Potenz des Theaters überhaupt darstellt. In ihr sind sämtliche Untugenden und Tugenden des Theaters gesteigert und alle Mittel der Verzauberung durch den holden Schein vereinigt und mit der unbegreiflichen und unberechenbaren Magie der Musik aufs engste verbunden. Es sieht beinahe so aus, als ob kein König und kein Gott dieses merkwürdige Reich in Wahrheit ganz nach seinem Wunsch und Willen zu lenken vermöchte, als ob vielmehr die Oper nichts anderes wäre als ein anarchischer Hexenkessel, siedend in Unordnung, Leidenschaft und Willkür, eine lächerliche Kreuzung aus Protheus und Chamäleon, bei der das Unerwartete wahrscheinlich und das Vorausgedachte unmöglich wäre. Und doch gehorcht dieser widerspenstige, auseinanderstrebende, vielfältige und unwahrscheinliche Apparat widerspruchslos lautlosen Befehlen, die den Lärm der Interessen, Intrigen und tumultua-rischsten Betriebsamkeit mühelos durchdringen. Befehlen, die bis ins kleinste und einzelste auf fünf armselige Notenzeilen aufgezeichnet sind. Es bemüht sich der Regisseur, der Maler ebenso wie der änger, es bemühen sich alle mit allen ihren Helfern. Und wenn Streit entstellt, dann niemals darum, - ob man dem Befehl gehorchen solle oder nicht, sondern nur, wie man es anstellen müsse, vollkommen seinen Sinn zu erfüllen.

SO IST ALSO DER KOMPONIST der heimliche und unumschränkte Herr der Oper, dem sie alle Untertan sind, dem die einen ihre Würden und Vollmachten und die andern ihren Glanz und ihren Ruhm rdanken. In der abgeschiedenen Stille seiner Stube setzt er Note für Note, Zeichen für Zeichen auf die Zeilen, und mit jeder Seite, die er umwendet, entfesselt er aufs neue die Kräfte, die so begierig darauf warten, entfesselt zu werden, nicht nur die Fülle der Gesichte. Sicher ist auch dies ein Grund dafür, daß so viele Leute sich unermüdlich dem Komponieren von Opern hingeben. Aber ach, von tausend Opern, die geschrieben werden, werden nur hundert aufgeführt, und von hundert' fallen mindestens neunaig durch, und nur ganz wenigen gelingt es, ausgepfiffen und diskutiert, und noch wenigeren, diskutiert und anerkannt zu werderf. Ich sage, nur ganz wenigen gelingt es, ausgepfiffen zu werden, denn immerhin ist der Protest schon eine gesteigerte Form der Anteilnahme, und schließlich gibt es nichts Kränkenderes als ein Publikum, das, wie eine stumme Herde, uninteressiert und schweigend ein neues Stück absitzt. Opern, die bei der Uraufführung ausgepfiffen wurden, haben es später schon oft zu besonderer Beliebtheit gebracht, so daß der ausgepfiffene Autor durchaus berechtigt ist, liebliche und hoffnungsvolle Gefühle in seinem Busen zu hegen, wenn er den ersten Schreck einmal überwunden hat. Erschrecken wird er natürlich auf jeden Fall, denn zunächst hofft jeder auf enthusiastische Zustimmung, und so glücklich einer selbst erzählen mag, er habe in X vierzig Vorhänge gehabt (zehn davon sind sicher doppelt gezählt, einmal vom Regisseur und einmal vom Kapellmeister), so sicher findet er insgeheim, daß es eigentlich um zehn zuwenig waren. Und jetzt sind wir erst beim wahren König der Oper angelangt, beim Publikum, diesem tausendäugigen, unerforschten Wesen, das, wenn man es in seine Bestandteile zerlegt, doch durchaus in Herrn, Frau und Fräulein XYZ zerfällt und in dieser Form nichts Unerforschliches mehr hat. Es ist ohne Zweifel ein großes Glück, daß bei der Zusammenfassung von Einzelwesen immer mehr herauskommt als nur das schlichte Ergebnis einer Addition, denn wäre das nicht der Fall, dann sähe ich für die Zukunft der Opei schwarz.

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