Die letzten Wochen in Polens politischem Leben sind faszinierend gewesen. Der düsteren Herbstmelancholie zum Trotz wurde plötzlich alles schneller und dynamischer - einfacher gesagt: optimistisch. Dabei waren die tiefsinnigen und schwermütigen Prognosen einer populistischen Offensive in Osteuropa und einer gefährlichen Demokratieermüdung doch erst ein paar Wochen alt …
Doch als meine Studenten ganz stolz aus Berlin anriefen, um mir mitzuteilen, dass sie schon drei Stunden in der Wahlschlange vor der Botschaft stünden, um ihre Stimme abzugeben, wusste ich, dass man aufatmen kann: Die Demokratie lebt. Die große Welle der jungen Wähler bildeten die Discobesucher, die Sonntag früh auf dem Heimweg einfach bei den Wahllokalen vorbeischauten. Genau deshalb lebt gegenwärtig in Polen die Freude auf: Die junge Generation ist wieder in der Politik präsent; selbst wenn sie momentan als Teil einer "Nomadengesellschaft" in London lebt und arbeitet. Übermorgen werden auch diese jungen Wähler neuen Herausforderungen und Enttäuschungen in die Augen sehen müssen. Heute aber feiern wir ein Fest der Demokratie.
Diese Stimmung wird am besten durch eine alte Anekdote versinnbildlicht: Ein Kind von sieben Jahren hat noch nie in seinem Leben ein Wort gesprochen. Die besorgten Eltern haben alles probiert, aber nichts hat geholfen. Doch eines Tages beim Mittagessen sagt das Kind plötzlich ganz laut und deutlich: "Die Suppe ist kalt!" Die Eltern, außer sich vor Freude, fragen: "Kind, warum hast du noch nie was gesagt, du kannst also doch sprechen?" Die Antwort lautet: "Bis jetzt war alles in Ordnung."
Uns bleibt die Hoffung, dass ein Teil der vielbesprochenen Demokratieermüdung auch in den alten Demokratien davon kommt, dass bis jetzt alles in Ordnung war. Und sollte eines Tages dort die Suppe kalt werden, werden bestimmt die Discobesucher aktiv werden.
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