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Ein großer Schweizer und ein großer Europäer

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Literaturhistoriker, Geschichtsschreiber, Publizist, Dichter und Denker, einer jener wenigen zeitgenössischen Vertreter des vom christlichen Humanismus geprägten Uomo universale, hat der bedeutendste Repräsentant des heutigen schweizerischen Geistesschaffens französischer Zunge vor kurzem seinen 75. Geburtstag gefeiert. Graf Gonzague de Reynold, Professor an den Universitäten Bern und Freiburg, Träger des portugiesischen Camoen-Preises, einstiger Vizepräsident des Institut de Cooperation Intellec-tuelle, war aus diesem Anlaß Gegenstand zahlloser Ehrungen. Als dauerndes Denkmal, das die geistige Gestalt und das Werk des hervorragenden Mannes für die Nachwelt aus den Zeugnissen Mitlebender festhalten soll, haben 75 Staatsmänner, Gelehrte und Schriftsteller aus 16 Ländern Beiträge zu einer Gabe des Dankes, der Erinnerung und der kritischen Wertung vereint. Der Freiburger Dozent Jost besorgte vorzüglich die Redaktion des glänzend ausgestatteten Bandes. Den Löwenanteil an diesem Sammelwerk haben begreiflicherweise Angehörige des französischen Sprachraums — 22 Welschschweizer. 27 Franzosen, 8 Belgier, 2 Franko-Kanadier. Unter ihnen finden wir Namen von hellem Klang: Robert Schu-man, die Mitglieder der Academie Francaise Daniel-Rops, Duc de La Force, Madelin, Siegfried und Vau-doyer, Wissenschafter von Rang eines Daniel Halevy und Pierre Moreau, Kritiker von dem eines Marcel Brion, ferner Msgr. Calvct, La Varende, Rene Pinon. Aus der Schweiz haben ihr Scherflein beigesteuert Denis de Rougemont. Pierre-Henri Simon, Viatte, Maurice Zermatten, Henri de Ziegler, dann sieben alemannische Eidgenossen, alle von erlesener Qualität: Bundesrat Etter, Carl Burckhardt (Gonzagues Schwiegersohn), Oberstkorpskommandant Frick, Nationalrat Wiek, Max Huber, Max Rychner und Oskar Bauhofer. Auch Belgien ist durch eine Elite vertreten, drei Akademiker, Graf Lichtervelde, den hervorragenden Romancier Pierre Nothoinb und Luc Hommel, den Herausgeber der ..Syntheses“, Lambil-liotte, den ausgezeichneten Historiker Vicomte Terlinden. Obzwar Italien, Spanien, Portugal und Lateinamerika zahlenmäßig zurückbleiben, ersetzt hier die Qualität die Quantität. Namen, wie Gemelli, Jose Maria Pemän, Antonio Ferro, Enrique Ruiz-Guiiiazü, mögen das bezeigen. Mit um so aufrichtiger Betrübnis müssen wir die Abwesenheit irgendwelcher namhafter deutscher Gelehrter oder Schriftsteller beklagen. Wir sehen in dieser bedauerlichen Tatsache den Beleg, daß Gonzague de Reynold in Deutschland noch immer so gut wie unbekannt ist, auch in katholischen und konservativen Kreisen. Daß aus dem Osten nur die Stimmen zweier Exulanten zu vernehmen sind, ist begreiflich. Eine davon wiegt freilich hundert andere auf, die Oskar Haleckis, des in Amerika weilenden bedeutendsten polnischen Historikers unserer Tage. Aus Wien haben Friedrich Heer und der Schreiber dieser Zeilen sich zu de Reynold bekannt.

Aus der Symphonie so vieler Einzelbeiträge schält sich das imponierende großartige Gesamtbild des Jubilars heraus, der weithin Anregung geboten hat und dessen historisches Hauptwerk, die geschichts-philosophischen Betrachtungen zum Werden, zum Aufstieg und zum Abstieg Europas — „La Formation de l'Europe“ — zu den unvergänglichen Meisterwerken einer gedanklich originellen, wortkünstlerisch vollendeten und wissenschaftlich wohlfundierten Geschichtsschreibung zählt. Auch über den liebenswerten, charmanten Menschen erhalten wir eine Menge, auch im Anekdotischen wichtiger, Aufschlüsse. Es bleibt als Wermutstropfen im beglückenden Born so edler und feuriger, kraftspendender und ausgereifter Weisheit die Betrübnis darüber, daß Gonzague de Reynolds Leistung bisher nur Besitz der lateinischen Welt geworden ist. Nun wäre es endlich an der Zeit, von diesem neuen Jacob Burckhardt (zur höchsten geistigen Potenz) auch in Europas Mitte Notiz zu nehmen.

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