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Eiszeit des Theaters

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Auf der Wanderung durch die Wüste bedeutet das Entdecken der kleinsten Oase dem Verdurstenden einen Quell der Hoffnung auf Uberleben. In welche ausweglose Sackgasse das amerikanische Theater geschlittert ist, davon konnte man sich in der letzten Spielzeit eines totalen Mißvergnügens überzeugen. Sehen wir von einigen englischen Importartikeln ab und stellen wir das Interesse fest, dem Heinar Kipphardts szenischer Bericht „7n der Sache J. Robert Oppenheimer“ (in einer gedrungenen Aufführung des Repertoire-Theaters im Lincoln Center) begegnete, so hat die heimische dramatische „Produktion“ aufregend Irritierendes, aber nichts Wertbeständiges oder gar Neuartiges geboren. Dies erklärt (jedoch rechtfertigt nicht) das Freudengeschrei, mit dem „1776“, ein Musical, dessen Thema die Unterzeichnung der Unabhängigkeitsurkunde der Vereinigten Staaten ist, nach seiner szenisch wenig beeindruckenden Broadway-Uraufführung begrüßt worden ist: Historische Persönlichkeiten (John Adams, Thomas Jefferson, Benjamin Franklin) agieren im Kostüm der Zeit und singen heutige Songs — alles ist mit dem Durchblättern eines historischen Bilderbuches zu vergleichen und dazu angetan, den mit Kind und Kegel in die Weltstadt gekommenen Provinzbesuchern keinen ,,verruchten“ Eindruck vom New Yorker Theaterleben zu geben. Nun, da jede Zeit ihr „Dreimäderlhaus“ verdient, ist auch an diesem Millirahmstrudel mit seinen historischen Rosinen nichts auszusetzen — bis auf den sirupsüßen Geschmack, der eine Fälschung des geistigen Zustands unserer Zeit ist.

Stücke kamen — und Stücke gingen; mehr als üblich und schneller im „Verbrauch“ als selbst in ausgesprochenen Nietenjahren. Premierenvorhänge fielen nieder, um sich keiner zweiten Aufführimg schämen zu müssen; manche Versager, deren Herausbringen Unsummen kostete, hielten sich trotz verdammender kritischer Urteile drei bis vier Abende über Wasser, ehe sie die Flut dauernder Vergessenheit von den Brettern verlogenen Lebens hinwegspülte. Diese Entwicklung (besser gesagt: dieses Zurückbilden) ließ sich voraussagen. Zu denken gibt eigentlich nur die Rasanz des Verfallprozesses, stutzig macht nur die Erkenntnis, daß wir nicht länger inmitten einer Spätzeit stehen, sondern bereits an deren uns von Oswald Spengler geweissagtem Ende.

„Künstlerische Inspiration“ — nach der schöpferische Kräfte dürsten — läßt sich im Versuch, ein Kunstwerk Abbild der verwirrenden Sozialzustände sein zu lassen, nicht gewaltsam erzwingen; die Produktivität, so bizarr, riskant und pervertiert sie auch sein mag, trägt den Mantel der Sterilität. Daran ändert auch eine „Aufmachung“ nichts, die diesen Leerlauf durch Absurditäten und durch Nützen der „freien, ungehemmten Moral“ (und Unmoral) mit Entkleidungsszenen, Nacktheit und eindeutig obszönen ,.Reizmitteln“ zu verschleiern trachtet. Eher als doch pur „Angedeutetes“ im Theater zu betrachten, stehen die Hippies jeder Altersstufe weitaus lieber vor den Kinos Schlange, um sich von Vilgot Sjömans „Ich bin neugierig“ über das aufklären zu lassen, wofür sie kaum mehr ein Jota Neugier verspüren. Autoren wagten auch, mit den leidigen Rasse- und Religionspröblemen zu kokettieren; wo immer sie nicht mit sexuellen garniert wurden (was mitunter abstoßend, unwahr und unappetitlich wirkte), vermochten sie als Farce oder einseitig dick aufgetragene Ausschnitte des Lebens der amerikanischen Minoritäten ein Theaterpublikum nicht zu befriedigen. Ein „Lehrstück“ zu schreiben wird sich jeder Bühnenautor angesichts der „Struktur“ des Theaterbetriebes als Vergnügungsstätte wohlweislich hüten, abgesehen davon, daß sich für ein derartiges Werk weder Geldgeber noch Produzenten finden lassen würden.. Es ist die fehlende innere Beziehung zwischen Autor und Publikum, welche den Zustand der Entfremdung diesseits und jenseits der Rampe geschaffen hat. „Der Preis“ von Arthur Miller war vielleicht die letzte Ausnahme; kein amerikanischer Dramatiker von Rang ist nach diesem (indessen abgesetzten) Stück auf dem Broadway mit etwas Gehaltvollem zu Wort gekommen. Schöpferische Unfruchtbarkeit? Kaum. Viel eher die Frage nach dem Warum und Wofür. Sie ist es, die den verantwortungsbewußt Schaffenden zur Stagnation verurteilt hat.

„Braucht die Welt denn irgendein neues Werk von mir — braucht sie hundert andere neue Werke von anderen Komponisten?“ fragt Leonard Bernstein. John Gruen, der mit dem Dirigenten sieben Wochen eines italienischen Sommers verbrachte, gibt in dem kürzlich veröffentlichten Buch „The Private World of Leonard Bernstein“ ein zu nächtlicher Stunde geführtes Gespräch mit dem Mann wieder, der, um sich erneut nur dem Schaffen zu widmen, mit Ende der Spielzeit als Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker den Abschied nahm. Es ist das eindeutig umrissene Bild der qualvollen Unentschlossenheit, die einen schöpferischen Menschen, der seine „Aufgabe“ erfüllen möchte, heute umklammert: Pläne, Skizzen, Ideen, Entwürfe — ihrer gibt es genug. Talent, Begabung, Streben und Lust nach einer „Aussage“ sind vorhanden, müssen weder „entdeckt“ noch geweckt werden. Bernstein jedoch ist kein Einzelfall, und seine Erklärung: „In der heutigen Welt fällt es dem Künstler von Tag zu Tag schwerer, seine Sendung in der Kunst — nahezu Ersatz von Religion — zu erfüllen“, ist zu symptomatisch, um nicht auch als eine Deutung der Wert- und Kursveränderungen verstanden zu werden, welche zum Verschweigen der besten Stimmen unter den Dramatikern und zum Anbruch einer Eiszeit des Theaters führen.

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