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Elisabeth gegen Viktoria?

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Während das britische Kabinett mit verschiedenen internationalen Krisen — Golf von Tonkin, Zypern, Aden und Südrhodesien — voll beschäftigt war und sicherlich nicht über eine „Saure-Gurken-Zeit” zu klagen hatte, verhinderten die englischen Jugendlichen die Entstehung eines solchen Zustandes für die Polizei und die Jugendgerichte. Mit sichtlichem Eifer und vielleicht entsprechendem Vergnügen stürzte sich die Presse auf die Ereignisse rund um die „Mods” und „Rockers”.

Kaum ein Tag ist vergangen, an dem nicht Presseagenturen, englische, amerikanische und kontinentale Zeitungen, Wochenzeitungen und Magazine Neuigkeiten von diesen beiden englischen Halbstarkentypen meldeten. (Die amerikanisehen Journalisten vermochten ihre Freude über dieses englische Jugendproblem kaum zu verbergen, ließ es sie doch ihre eigenen Schwierigkeiten ein wenig vergessen, und die Kommentatoren aus der Bundesrepublik Deutschland waren gleich mit Ratschlägen zur Hand.)

Soviel auch über die „Mods” und „Rockers” geschrieben worden ist, bisher haben sich nur wenige bemüht, einmal zu sagen, was sich hinter diesen beiden, für den Ausländer wohl unverständlichen Schlagworten verbirgt. Mit einer Definition läßt es sich auch kaum bewerkstelligen. Am ehesten kann man die „Mods” und „Rockers” an der Kleidung unterscheiden: Die „Mods”, die sich selbst gerne als modern bezeichnen, haben gepflegte Frisuren, die häufig an mittelalterliche Pagenköpfe erinnern, und tragen auffällige und in gewissem Sinn modische Kleidung (pastell- farbene Flanellanzüge mit Samtkragen und stoffüberzogenen Knöpfen, stets neuartig geschnittene Hemdkragen, Stecktücher usw.); die „Rockers” kleiden sich meist in Lederjacken, Blue jeans und stellen mehr die „wilde” Form der Halbwüchsigen dar. Wie schon der Name andeutet, haben sie eine Vorliebe für Tänze im Rock-’n-Roll-Rhythmus und entsprechen den amerikanischen „Street Gangs” und den französischen „Blousons Noirs”. Ein weiteres wesentliches Unterscheidungsmerkmal seien, so versichern Gewährsleute, die Verkehrsmittel, welche diese beiden Gruppen benutzen. Wer einem Jugendlichen auf einem Motorroller begegnet, kann sicher sein, daß es kein Rocker, wahrscheinlich aber ein Mod ist; fährt der junge Mann hingegen auf einem Motorrad, ist er gewiß kein Mod, sondern vermutlich ein Rocker.

Besser als eine lange Beschreibung es vermag, lassen sich die Mods und Rockers kennzeichnen, wenn man sie selber sprechen läßt. Ein Jugendlicher, der, seinem Aussehen nach, ganz sicher ein Mod war, beantwortete die Frage, warum er ein Mod sei, mit den Worten: „Ich bin kein Mod. Ich bin ein Individualist.” Eine Antwort, …die,, dutzendfach gegeben wurde. „Ich bin Mechaniker und verdiene rund 20 Pfund in der Woche. Davon jgebfc ich zu Hause drei Pfund her und verwende den größten Teil des Restes für Kleidung.” Ein anderer verdient wöchentlich zehn Pfund, trägt zwei Pfund zu den Kosten des Familienhaushaltes bei und verbraucht das übrige für Kleidung, „um von den anderen abzustechen”. Andere wieder verbrauchen einen nicht geringen Teil ihres Einkommens für Kosmetika, wozu neuerdings auch Gesichtspuder (!) zählt. „Die Mode der Mods ändert sich alle Wochen”, gibt mir ein Bursche zu verstehen. „Man muß sich schon anstrengen, damit man ,up to date’ bleibt.” Man schätzt, daß viele Mods zwischen acht und zehn Pfund wöchentlich für diesen Zweck aufwenden.

„Wie kann man in diesen verrückten Kleidern richtig Motorrad fahren”, meint ein Rocker in seiner Lederjacke und begleitet diese Bemerkung mit einer Handbewegung, die Geringschätzung und Verachtung ausdrückt. Er sei Mechaniker, verdiene etwa elf Pfund in der Woche, so erzählt er. Seit seinem 17. Lebensjahr besitzt er ein Motorrad. „Alles, was ,Mum’ (Mutter) mir ließ, sparte ich dafür. Ein Motorrad macht richtig Spaß; es verweichlicht nicht so wie ein Auto.” Ein Elektriker mit einem Einkommen von etwas mehr als 16 Pfund erklärt überzeugt, daß es mehr Können verlange, auf einem Motorrad zu fahren. „Auf einem Motorroller oder in einem Auto sitzt man bloß und lenkt; das ist nichts für mich”, meint er.

„Jugendliche Kaufkraft”: 900 Millionen Pfund

Trotz der Unterschiede gleichen sich die Mods und Rockers in mancher Beziehung. Schon die Antworten deckten eine Gemeinsamkeit auf: Die englischen Jugendlichen üben eine beachtlich kaufkräftige Nachfrage aus, da sie über ein ansehnliches Einkommen verfügen und kaum laufende Ausgaben tätigen müssen. In der Tat, Fachleute schätzen die gesamte Kaufkraft der 15- bis 20jährigen pro Jahr auf rund 900 Millionen Pfund Sterling (zirka 63 Milliarden österreichische

Schilling, damit also höher als das

Budget des österreichischen Staates). Als zweites beiden Gruppen gemeinsames Merkmal bezeichnen Psychologen und Soziologen die Langeweile.

Bis zur Schulentlassung im Alter von 15 oder 16 Jahren ist der englische Jugendliche kaum vor ein Problem gestellt, wie er seine Freizeit verbringen soll. Solange er nämlich die Schule besucht, ist jene eher karg bemessen, da in England der Unterricht auch am Nachmittag erteilt wird. Außerdem stehen ihnen weitläufige Rasenflächen zur Verfügung, auf denen sie sich unter Aufsicht in den verschiedenen Spielen — hauptsächlich Fußball und Rugby — nach Herzenslust austoben können. Sobald die Jugendlichen im Berufsleben stehen, fällt beides weg: die Schulaufgabe nach dem Nachmittagsunterricht und die großzügigen Sportmöglichkeiten. Da die große Mehrzahl der Jugendlichen es bis dahin nicht gelernt hat, sich selbst konstruktiv zu beschäftigen, stehen und gehen sie ziel- und lustlos vor ihren Lieblingscafes (die nichts mit einem Wiener Kaffeehaus gemein haben) umher, werfen ab und zu ihre Münzen in Spielautomaten oder „juke boxes” (Musikautomaten), „angeln” sich ihren „bird” (Mädchen) und tanzen (öder tun, was man tanzen nennt). Die Rockers gelten dabei als „konservativ”, weil sie jahrein und jahraus immer in der gleichen „Uniform” immer noch twisten, die Mods als „fortschrittlich”, weil sie außer den Anzügen auch Tänze allwöchentlich der neuesten Mode anpassen. Das rein passive Verhalten und die Langeweile schlagen dann ab und zu in Krawallszenen, in Kämpfe der Mods mit den Rockers und beider mit der Polizei um, alles vornehmlich während des Wochenendes.

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