6575503-1950_41_13.jpg
Digital In Arbeit

Florian KoMJtaas will zum Kaiser

Werbung
Werbung
Werbung

Als er eines Tages, da er sehr traurig war, nach etwas Trostreichem suchte, blieb ihm nichts anderes, an dem er sich freuen konnte, als daß er nicht Michael hieß, und das war eine sehr bescheidene Freude; außerdem war sie eine sehr geteilte Freude, denn wenn er seinen Namen schrieb, stand zwar „Florian“, aber immerhin auch „Kohlhaas“. da. Sein Beruf brachte es mit sich, daß dieser Name oft und von vielen gelesen wurde, und wer ihn las, konnte nicht anders, als in dem, der so hieß, einen Mann sich vorzustellen, der vor Rechtlichkeit und Rechtschaffenheit zum Abenteurer geworden war, einen Mann, der sich in einer Zeit, die ganz offensichtlich sehr wenig dafür übrig hatte, den Luxus leistete, an den. Sieg der Gerechtigkeit und des Guten zu glauben.

Wer ihn zu Gesicht bekam, war enttäuscht, denn er sah ebenso durchschnittlich aus wie alle, die schon durch die große Mühle des Lebens gegangen sind und deshalb wissen, daß sie höchstens ein bißdien anders, keinesfalls aber besser als alle anderen sind.

Wenn er gefragt wurde, ob er ein Nachfahre jenes berühmten Michael sei, so verneinte er. Er verneinte auf gut Glück, denn er hatte es nie gewagt, in der Reihe seiner Väter so weit zurück zu forschen, daß er Gefahr laufen mußte, diesem gleichermaßen verehrten und bewunderten als auch gefürditeten und fast gehaßten Michael zu begegnen. In einem der Familienpapiere stieß er auf einen M. Kohlhaas, aber sogleich bündelte er sie wieder zu und tröstete sich mit dem Glauben, daß dieses M „Maximilian“ bedeute. Es hätte ihn beirrt und bedrückt, es hätte ihn der Freiheit beraubt, der zu sein, der er war: Herr Florian Kohlhaas, ein echter Sohn des zwanzigsten Jahrhunderts, unser aller Zeitgenosse.

Er war zu einer Zeit zur Welt gekommen, in der ein Backhuhn vierunddreißig Kreuzer gekostet hatte. Der Diener des Amtes, dem Florians Vater vorstand, kaufte sich zur Vormittags- und Nachmittagsjause jedesmal einen Liter Bier, eine Speckwurst und einen Salzwecken. Dazu raudite er eine Virginiazigarre. Der einfache Beamte aß zur Jause ein Paar heiße Würstchen, der gehobene, also auch Florians Vater, eine mit Schinken oder mit Salami belegte Semmel. Zu Mittag aßen sie alle, außer an Feiertagen, Braten oder gekochtes Rindfleisch. Der Kaiser aß am liebsten gekochtes Rindfleisch. Manchmal ließ er sidi von seinem Diener zur Vormittagsjause aus dem Gasthaus ein kleines Gulasch holen. Er rauchte gern eine Virginiazigarre.

So war es auch noch in den Jahren, als Florian zum Verdruß des Kindermädchens die Windeln näßte. Das Mädchen bekam manchen Tag Besuch von einem Soldaten, der eine blaue Bluse trug; quer über die Brust hing eine hellrote Schnur mit roten, wolligen Quasten daran. Der Soldat sagte mit feierlichem Ernst, sie seien kein Spielzeug, sondern das Zeichen, daß er besser schießen könne als viele andere Soldaten. Als Florian dennoch mit den Quasten spielen wollte, klopfte ihm die Mutter auf die Finger.

Als Florian zur Schule ging, kostete ein Backhuhn schon vierzig Kreuzer, und auch alle anderen Dinge waren teurer geworden, aber der Amtsdiener vergönnte sich doch zur Vormittags- und Nachmittags jause jedesmal einen Liter Bier, eine Speckwurst und einen Salzwecken. Dazu rauchte er eine Virginiazigarre. Der einfache Beamte aß heiße Würstchen, der gehobene eine Salamioder Schinkensemmel. Zu Mittag kam Braten oder gekochtes Rindfleisch auf den Tisch. Der Kaiser aß am liebsten gekochtes Rindfleisch, und wenn er am Vormittag Zeit dazu hatte, ließ er sich von seinem Diener aus dem Gasthaus ein kleines Gulasch und eine Kaisersemmel holen. Und er rauchte gern eine Virginiazigarre. Florians Lehrer aß um zehn Uhr ein Butterbrot. Er brachte mit vieler Liebe und großer Geduld den Schülern alles das bei, was ihnen im Leben an Wissen unentbehrlich und an Grundsätzen förderlich sein konnte. Er wollte nicht nur tüchtige, sondern auch ehrliche Menschen aus ihnen machen. Er sagte zum Beispiel: „Morgenstunde hat Gold im Munde“ oder „Ehrlich währt am längsten“ oder „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht...“ oder „Was du nicht willst, daß man dir tu ...“

Und da war auch der Katechet, der sich um Geist und Seele der Kinder bemühte, ein Mann, der der Meinung war, daß im einfachsten Gebet die höchste Weisheit verborgen sei, er war fromm und gütig und er sagte: „Die Liebe ist es, durch die ein Christ zum Christen wird“ und „Liebe deinen Nächsten, liebe selbst deinen Feind“ und „Du sollst nicht töten!“

Florians Vater war als gerechter, unbestechlicher Mann geachtet und gefürchtet; er lebte nach dem Grundsatze, in allem das Rechte zu tun, vor Entscheidungen sein Gewissen zu fragen und so zu handeln, daß in keinem seiner Mitmenschen das Böse geweckt würde.

So wuchs Florian in eine sehr schöne, sehr edle, sehr wohlgeordnete Welt, in eine Welt, in der der Starke dem Schwachen, der Reiche dem Armen und der Arme dem noch Ärmeren beistand. Das Gute siegte schließlich, die Lüge war allen Menschen häßlich, einer räumt dem anderen die Hindernisse aus dem Wege, und es war eitel Liebe in der Welt.

Es gab aber Störungen in dieser Welt, freilich, die gab es. Die Anlässe dazu waren gering, und niemand konnte am Anfang ermessen, daß großes Unheil aus ihnen wachsen werde. Da lieh Florian seinem Banknachbar das neue Sagenbuch, das er zum Namenstag bekommen hatte. Nach ein paar Tagen erhielt er es verschmiert und bekleckst zurück, und er machte dem Schmierfink, ganz traurig geworden, einen gelinden Vorwurf: „O du, wie hast du bloß das schöne Buch augerichtet!“ Der Schmierfink aber war dreist genug, ihn anzuschreien: „Das? Das habe nicht ich getan!“ Darauf sagte

Florian Kohlhaas nur: „Wenn du das sagst, bist du ein Lügner, und du sollst nicht lügen!“ Mehr sagte er nicht, denn er wußte, daß das Buch ohnedies nicht mehr neu würde. Der Übeltäter aber, der sich in seiner Ehre gekränkt fühlte, wollte sich, obwohl er viel kleiner und schwächer war, auf Florian stürzen. Das tun die Kleineren und Schwächeren oft. Florian aber, der ernsthafte Raufereien nicht liebte,.wollte die Hände des anderen davor behüten, Böses zu tun, deshalb faßte. er sie und hielt sie fest. Das kränkte des Kleinen Ehre noch mehr, und er fing ein furchtbares Geschrei an. Die Mitschüler hatten längst schon einen Kreis um sie gebildet, um sich an der Auseinandersetzung der beiden weiden zu können. Auch die zwei engsten Freunde Florians waren Zeugen von Anfang an, und auch ihnen ging das jämmerlich Schreien des Kleinen nahe und auch sie hatten Mitleid mit ihm, freilich ohne sich an dem Geschimpfe, das sich nun von allen Seiten gegen Florian erhob, zu beteiligen. Da trat der Lehrer ein, die Buben stoben auseinander, und einer schrie: „Der Florian!“ Da riefen die anderen dazu: „Der Kohlhaas! Der Kohlhaas!“, und beinahe wäre es dem erzürnten Lehrer nicht gelungen, sich Ruhe zu verschaffen.

Florian ließ die Hände des Kleinen los. Dieser weinte. Der Lehrer sagte zunächst bloß ein schwerwiegendes „So —“. Dann stieg er auf das Podium, hieß alle auf ihre Plätze gehen und maß Florian eine Strafe zu, die ihm gerecht und heilsam dünkte. Er sollte fünfundzwanzigmal sdireiben: „Ich soll meinen Nächsten weder beleidigen noch bedrohen oder gar mißhandeln!“ Da ihm aber auch der andere nicht ganz unsdruldig erschien, hieß er ihn „Ich soll verträglich sein“ zehnmal zu schreiben.

Als Florian das ihm befohlene Sprüchlein daheim zum zehnten Male geschrieben hatte, waren seine Augen noch voll der Zornestränen, als es zwanzigmal in sorgfältiger Schrift untereinander stand, hatte er Trost geschöpft aus der Zuversicht, daß die Wahrheit schließlich doch ans Licht kommen und ihm Recht widerfahren werde. Als er zum fünfundzwanzigsten Male ansetzte, kam sein Vater. Er sah ihm über die Schultern, las und fragte, was es da gegeben habe, daß er diese Straf arbeit liefern müsse. Florian erzählte alles. Der Vater überlegte und sprach: „Das zu schreiben hat dir nicht geschadet. Man muß im Leben viel, viel mehr Unrecht tragen, und man kann es, wenn nur das Gewissen rein ist. Frage dein Gewissen, Florian!“

Er fragte sein Gewissen, und das sagte ihm, daß der Lehrer, den er sehr liebte, die volle, reine Wahrheit erfahren müsse. Es lag ihm fern, seinem Banknachbar eine Strafe zu erwirken, es sollte einfach nur die Wahrheit ans Licht kommen. Als er am anderen Tage die Strafarbeit ablieferte, bat er den Lehrer, ihn anzuhören. Der Lehrer, dessen Zorn sich gelegt hatte, konnte sich denken, daß Florian nicht wider sich selbst sprechen würde, und so beschloß er, die zwei der besten Freunde Florians zu befragen. Zuerst fragte er also Ernst Sperber, das war der Sohn eines Optikers, und der berichtete haargenau, wie alles vor sich gegangen war, er fügte nichts hinzu, er ließ nichts weg, er sagte die pure Wahrheit. Aber als ihn der Lehrer fragte, wer der Schuldige sei, da zuckte er verlegen die Achseln. Er wußte es nicht, denn seinen Augen war es nicht gegeben, unter die Oberfläche und hinter das Sichtbare zu schauen. Florian Kohlhaas wunderte sidi, daß sein Freund wohl die pure Wahrheit sagen konnte, nicht aber auch seine Meinung darüber zu äußern wagte, und er wußte nicht, weshalb sein Herz dabei ein wenig traurig wurde. Ganz und gar traurig und schwer wurde ihm das Herz, als sein anderer Freund, Cyriak Zyrnkilt, der Sohn des Schaukelbesitzers, vom Lehrer befragt, zur Antwort gab, er meine, Unrecht hätten beide, Florian sowohl als auch sein Nachbar, ebenso seien alle zwei im Recht. Die Buben, die ihn so reden hörten, lachten, daß es durch die ganze Schule hallte, und fast hätte auch der Lehrer mitgelacht, wenn er nicht Florians betrübtes Gesicht gesehen hätte. Er erschrak vor dieser Traurigkeit und erinnerte sich, daß er selber am Unrecht leiden konnte und daß auch ihn das Versagen der Mitmenschen und die Unzulänglichkeiten der Freunde traurig machten, um so mehr, als er wußte, wie er selber versagen konnte und wie unzulänglich er selbst oft sei. Er überlegte, ob er nicht vielleicht ganz allgemein vor den kühlen Beobachtern und vor den unentschiedenen Schauklern warnen solle, aber es war schon zu viele Zeit verlorengegangen, und da er im Lehrstoffe weiterkommen mußte, fragte er Florian Kohlhaas: ,,Wenn ein Backhuhn vierzig Kreuzer kostet, was kosten sieben?“

Florian hatte die Frage gar nicht aufgefaßt, er war mit seinen Gedanken anderswo, er konnte nicht antworten. Er mußte sich setzen. Er dachte nur eines: Ich gehe zum Kaiser, der Kaiser ist gerecht. Nach der Schule ging er heim, nachdenklich, langsam, denn er legte sich zurecht, was er dem Kaiser segen werde. Er kam sehr spät nach Hause, und der Braten stand schon auf dem Tisch. Er grüßte, setzte sich aber nicht hin und schickte sich an, sein Sonntagsgewand anzuziehen. Der Vater fragte ihn, was er dem vorhabe, und Florian sagte, er müsse zum Kaiser, um ihm zu sagen, daß ein Unrecht geschehen sei in seinem Lande. Da nahm ihn der Vater an der der Hand, führte ihn zum Tische und sagte: „Du muß nicht dein Recht suchen,

Florian, der Kaiser wird dir nur sagen, daß er mit viel größerem Unrecht zu tun habe, und wahrscheinlich gibt er dir nur den Rat, du sollest selber zusehen, daß du kein Unrecht begehest. Bleib nur schön da und laß ein paar Tage vorübergehen —“ Florian blieb, aber der Braten schmeckte ihm nicht, und am anderen Tage schmeckte ihm auch das gekochte Rindfleisch nicht, und so ging es noch etliche Tage, bis seine Tauer über das Unrecht sich verlor und der Trauer Platz machte über ein Unrecht, das er selber beging.

Nach Jahren, als man schon mit Kronen rechnete, dachte Florian Kohlhaas an alles das zurück und sagte sich: Damals hat es begonnen ---

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung