7114615-1996_10_21.jpg
Digital In Arbeit

Folke Tegetthoff und die Kunst des Märchenerzählens i

Werbung
Werbung
Werbung

Märchen haben zu allen Zeiten etwas Erregendes. Sie sind verständlich und brauchen den Verstand weder als Schlüssel -darum sind Kinder von ihnen so angetan -, noch als Wächter, darum erreichen sie uns durch den Verstandesfilter hindurch. Wir nehmen die Rotschaften willig auf, viel müheloser als vom Prediger, Lehrer oder Therapeuten.

Vom bekannten Märchenerzähler Folke Tegetthoff aus der Steiermark sind zwei neue Bücher erschienen. In „Alles Märchen. 39 Miniaturen für Erwachsene" kommt vieles vor, was man kennt: allem voran der Grimmsche Typ, mit seinen klassischen Figuren. Ein repräsentatives Dutzend davon tritt auf, mitsamt ihren Motiven von Liebe, Güte, Treue, Neid, Verrat und Tod. Der Autor stattet sie unbefangen mit neuen Bequisiten au$, wie Jetreisen, Radio, Schreibmaschine. Die Figuren sind sichtlich amüsiert von dieser lockeren Auferstehung; als Archetyp ist man an wechselnde Umstände gewöhnt.

Auch afrikanische und arabische Vorlagen werden neu inszeniert. Parabeln im Brechtschen Stil verdichten die Moral auf einen Punkt. Gelegentlich erweitert sich das Märchen hin zum Mythos, etwa wenn der erste Regenbogen entsteht oder Gott im Paradies zuerst die Eva schafft und dann, aus purem Sachzwang, widerwillig auch den Adam folgen läßt. Von Satire ist das weit entfernt, wie überhaupt das gute Märchen, trotz seiner Schwerelosigkeit, eine sehr ernsthafte Gattung Schreibkunst ist.

Am aufregendsten aber sind die ganz eigenen Stücke Tegetthoffs. „Die Sehnsucht" etwa, die als Urkraft ein durchschnittenes Band der Liebe wieder heilen kann. Oder die dramatische Geschichte von der Weide, die sich von der Umschlingung ihres Efeu-Liebhabers listig emanzipiert. Es gelingt ihr, und gelingt gleichzeitig nicht: paradox und höchst modern. Oder Widerstandsgeschichten, wo die Moral gerade darin liegt, sich über ausdrückliche Verbote hinwegzusetzen. Beim Rotlicht an der Ampel nachts um zwei wird man gerne daran denken ...

In einige Geschichten ist zarte Erotik hineingehuscht, die sich gleich wieder scheu verdeckt und dadurch ihren Zauber nur erhöht. Manches aus frühen Liebesmärchen Tegetthoffs (1981) klingt an: die Zärtlichkeit, die Leichtigkeit und die Liebe unter den Dingen der Natur.

Die meisten Stücke haben eine feste, abgeschlossene Form, wie sich's gehört. Es gibt auch offene Geschichten, mit vorläufigem oder gar keinem Schluß. Sie laufen ins Bizarre aus, oder der Erzähler macht sich, wenn's ihm zu heiß wird, schnippisch davon. Da kann der Leser ansetzen mit seiner Phantasie. Er wird wieder Hörer, der Einspruch erheben darf, oder wie Eulenspiegel in einer der Geschichten, in aller Bescheidenheit selber weiterspinnen.

Den 39 Stücken sind jeweils kleine Federzeichnungen von Linda Wolfsgruber vorangestellt. Sie sind beachtenswert und wirken oft als zusätzlicher Schlüssel für den Text.

Doch wie entsteht ein Märchen? Im zweiten Buch, das hier zu besprechen ist, „Das Fabelland des Eises", bekommt man Einblick in so ein Entstehen. Anläßlich der jüngst gesendeten Fernsehserie „Arktis Nord-Ost" hatte der ORF die Idee, den Märchenerzähler in die Geschichte hineinzuziehen. Die Konstellation war einmalig: das Schiff der österreichischen Expedition heißt Tegetthoff und ist nach dem Admiral benannt, der des Märchenerzählers Ururur-Großonkel war.

Der Urneffe also arbeitet die märchenhafte Dimension des Unternehmens heraus und verflicht dabei viele Stränge. Einmal die Expeditionsgeschichte selber: der Plan, das Festsitzen im Eis, die Entdeckung des Franz-Josephs-Landes, der Fußmarsch südwärts und die Rettung schließlich durch ein Schiff.

Dann aber ist bereits im historischen Verlauf viel Wunderbares, ganz anders als bei einem vergleichbaren Mondfahrtunternehmen heutzutage: vor allem das Durchhalten der Männer zwei schwere Jahre lang. Der Erzähler will dabei „nicht den Sieg der Wissenschaft, sondern den Sieg des Glaubens und der Hoffnung sichtbar machen".

Randfiguren rücken ins Licht, wie etwa der Auffinder der Flaschenpost nach 48 Jahren oder die Putzfrau des russischen Gesandten in Wien, die ein wichtiges Dokument aus dem Papierkorb fischt. Sie sind alle real, aber zugleich märchenhaft geführt von einer höheren Regie, wenn sie das Stichwort für ihren kurzen Auftritt nicht verpassen.

Die Eismänner werden nacheinander in den sommerlichen Garten des Erzählers eingeladen. Sie werden interviewt, sie erzählen ihre Träume, Kindheitsgeschichten kommen hoch. Ein „Countdown des Erinnerns" findet statt, als ein Anlaufen gegen das Vergessen - damals im Eis, und eigentlich auch jetzt, wo solche Taten im Sediment der Historie zu versinken drohen. Der Erzähler beschwört den Leser immer wieder, mit einer Spende Aufmerksamket sich an der Rettung dieser Helden zu beteiligen.

Wie entsteht ein Märchen? Hier ist ein schönes Beispiel. Aber es ist, wie wenn man einem Gärtner zuschaut, wie er eine Blume topft: das Geheimnis des Wachsens ist damit noch nicht erfaßt. Beim Märchen gilt, wie allgemein: der Mensch denkt, aber Gott schenkt die Gedanken.

ALLES MÄRCHEN 59 MÄRCHEN

Von Folke Tegetthoff Illustriert von

Linda Wolfsgruber

Residenz Verlag, Salzburg 1995.

146 Seiten, geb., öS 248-

DAS EABELLAND DES EISES Ein Märchentagebuch Von Folke Tegetthoff Residenz Verlag, Salzburg 1995.105 Seiten, geb., öS 248.-

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung