6566607-1949_52_06.jpg
Digital In Arbeit

Häftling 16.670

Werbung
Werbung
Werbung

Am 30. Juli 1941 entwich aus dem gefürchteten Konzentrationslager Auschwitz ein Gefangener. Schon vorher war Befehl gegeben, für jeden Flüchtling zehn Kameraden seines Blockes dem Hungertod auszuliefern. In der folgenden Nacht schlief in Block 14 kein Mensch. Jeden Häftling quälte die bange Frage: „Wird es mich morgen treffen?" Am nächsten Tag gab der Lagerführer Fritsch bekannt, daß der Flüchtling nicht ergriffen wurde. „Zehn von euch werden daher an seiner Stelle im Hungerbunker sterben. Das nächste Mal werden es zwanzig sein!" Dann schritt die massige Gestalt des zum Tier verrohten Lagerkommandanten durch die Reihen der Gefangenen. Er musterte ihre Gesichter, ließ sich ihre Zähne zeigen und bezeichnete die einzelnen Todeskandidaten: „Du und du und die zwei..." — bis die Zahl zehn voll war. Ein junger Mann, den das Todeslos getroffen hatte, stöhnte auf: „Meine Frau und meine Kinder! Ich werde sie nicht

n!“ In die vom Schrecken gelähmten Männer kam plötzlich Bewegung. Ein Häftling hatte sich, entgegen jedem Befehl, aus den Reihen gelöst und ging mit festen Schritten gerade auf den Lagerführer zu. Dieser hält ihm die Pistole vors Gesicht: „Was willst du?“ Der Gefangene bleibt stehen und spricht leise, so leise, daß es nur die zunächst Stehenden hören können: „Ich will für diesen Verurteilten sterbe n.“ Fritsch ist verblüfft. Vieles hat er schon in seiner Henkerpraxis erlebt, so etwas jedoch nicht. Lange blickt er den Gefangenen schweigend an, dann ist seine Neugierde stärker als seine Brutalität. Er will wissen, wer der Mann vor ihm ist. Die Antwort: „Ich bin ein katholischer Priester und Mönch.“ Für einen Augenblick herrscht vollkommene Stille. Der Lagerführer überlegt, der Priester wartet. Das Gesicht des 47jährigen Mannes im Sträflingskleid erscheint plötzlich viel jünger und von einem inneren Leuchten überstrahlt.

Oder ist es nur das letzte Licht der Sonne, die eben in blutigem Purpur am Horizont versinkt? Dann fährt ihn der Lagerführer an: „Wenn du unbedingt willst, geh!" Name und Nummer des jungen Mannes — es ist der Häftling Gojawniczek — wird aus der Liste der Unglücklichen gestrichen, die Ziffer 16.670 dafür eingesetzt. Weiterer Formalitäten bedarf es nicht, das Opfer ist angenommen. Die letzte, die steilste Strecke des Erdenweges Raymund Kolbes, des Minoritenpaters Maximilian, beginnt. Ein Leben drängte zu seiner Vollendung. Es wäre auch ohne Martyrium der Erinnerung wert, des Gedenkens würdig. War doch der polnische Priester, der in Auschwitz freiwillig für einen Mitgefangenen in den Tod ging, einer der unermüdlichsten, aber auch erfolgreichsten Kämpfer der katholischen Presse in unserer Zeit.

Auschwitz war Ende und Erfüllung, Pa- pianice, ein kleines Dorf in der Nähe Lodz’, Anfang und Verheißung. Hier wurde Raymund Kolbe 1894 als vierter Sohn eines Webereiarbeiters geboren. Das polnische Dorf, wo in keinem Haus ein Bild der schwarzen Muttergottes von Częnstochau fehlt, wo die kleinen strohbedeckten Eiütten sich um die hölzerne Kirche scharen, in denen über dem Tabernakel die Landesmutter, die „Magna Mater Poloniae“ thront, bestimmte Kolbes Weg. Er, der in seinen Kindertagen davon träumte, einmal als ein Ritter Mariens, mit Schwert und Helm bewaffnet, in die Welt zu ziehen, ist nur als Sohn seines Landes, als Kind seines Volkes zu verstehen. Jenes Landes, das seit Jahrhunderten eingekeilt zwischen Deutschland und Rußland liegt. Kampf um Polen, das war immer auch Kampf um die Religion der Väter, Bewahrung der Religion aber Voraussetzung zur Erhaltung der nationalen Eigenarten. Deshalb das Bild von der Gottesmutter als „Kriegerin“, das nicht mit der Kindheit aus Raymund Kolbes Seele wich, sondern ihn Zeit seines Lebens voranleuchtete. Auch dann, als er in Lemberg Minorit geworden und in Rom an der Gre- goriana mit 21 Jahren in Philosophie und zwei Jahre später auch in Theologie promoviert hatte. Rom lähmte nicht den kämpferischen Sinn des jungen Mannes, es entfachte nur noch stärker seine militante Religiosität. Denn das Rom der Jahre vor dem ersten Weltkrieg war nicht nur die Stadt der Päpste, sondern auch die Stätte einer alles geistige Leben überwuchernden Freimaurerei. Hier gelangen die Ideen und Ideale der Jugend zur Reife. Maximilian Kolbe kennt jetzt sein Schlachtfeld, er weiß um die richtigen Waffen in seinem Kampf. Mit sieben Mitbrüdern gründet er die „Militia Imma- culatae“, „die Kampfschar Mariens“, mit der er — als ein Vorläufer Lombardis — Lüge und Haß in einem Feldzug der Wahrheit und Liebe entgegentreten will. 1919 in seine Heimat zurückgekehrt, verschließt sich Kolbe nicht in der Zelle eines Klosters. Er kennt nur eine Aufgabe: Polen zum Kernland seiner Kampfschar zu machen. Um seelische Erneuerung wird gerungen. Waffe in diesem Kampf aber ist das bedruckte Papier, die Presse. Unter denkbar ungünstigen Umständen erscheint 1922 das erste Heft des „Ritter der Unbefleckten". Einfach ist die Aufmachung, schlicht und anspruchslos der Stil. In einem Vorwort ist sogar zu lesen, daß das Erscheinen weiterer Nummern nicht garantiert werden könne. Finanzielle Schwierigkeiten sind nicht das einzige Hindernis. Auch bei den Oberen seines Ordens findet P. Maximilians Werk nicht ungeteilte Zustimmung. Mitten in der Aufbauarbeit seines Blattes wird er in die Provinz — nach Grodno versetzt. Hier fängt er ganz von neuem an. Mit geschenkten Dollars wird eine alte Handpresse gekauft. 60.000 Umdrehungen sind notwendig, die schon auf 5000 angestiegene Auflage herzustellen. Dazu kommt noch der Ausbruch einer Lungentuberkulose. Doch die Arbeit wird fortgesetzt, die Auflage des „Ritters" wächst. Während im Fieber der Inflation viele, Verlage das Erscheinen ihrer Zeitungen und Zeitschriften einstellen müssen, legt Kolbe immer mehr Exemplare auf. Ein großes Projekt reift in seinem Kopf und wird Wirklichkeit. Ein Grundstück in der Nähe Warschaus wird erworben. Hier entsteht „Niepokalanow“, „die Stadt der Unbefleckten“. Baracke reiht sich an Baracke, Rotationsmaschinen halten ihren Einzug. Nun beginnt der ans Wunderbar grenzende Aufstieg der heute von Vergessenheit bedrohten Pressestadt in Polen. 1927... 50.000, 1928... 81.000, 1930... 292.000, 1931 ... 432.000, 1935 ... 700.000, 1939 ... 1,000.0000 Exemplare legt der „Ritter“ auf. Daneben wird eine Kinderzeitschrift herausgegeben, die ebenfalls di

Auflage von 150.000 Stück erreicht, sowie eine internationale lateinische Monatsschrift: „Miles Immaculatae“. Im Mai 1935 erscheint eine Tageszeitung „Maly Dziennik“ („Kleines Journal“), die in vielen Exemplaren abgesetzt wird. Schon spüren die Zeitungsverleger die Konkurrenz. Sie werfen Kolbe „unlauteren Wettbewerb“, Beschäftigung nicht bezahlter Arbeitskräfte vor. Doch das Geheimnis von Niepokalanow lag genau so wie die Erklärung aller Erfolge Kolbes tiefer. Neun Tage vor dem Erscheinen der ersten Nummer des „Maly Dziennik“ beteten 700 Brüder — alle als Redakteure, Schriftsetzer und Korrektoren tätig am gemeinsamen Werk — vor dem ausgesetzten Allerheiligsten. Mehr als ein neuer, aus dem 20. Jahrhundert geborener Mönchstypus wurde hier herangezogen. Es war der erste Versuch einer Lösung und Erlösung der Technik aus den Fesseln des Materialismus, das große, das notwendige Wagnis einer Hereinnahme der Maschine in Gottes Heilsplan. „Die Rotationsmaschinen beten“, so nannte es einmal ein tiefbeeindruckter Besucher von Niepokalanow.

Polen wird als Arbeitsfeld zu eng. Kolbes Aufgabe, seine Mission ist größer. Deshalb bricht er 1930, auf der Höhe des ungeahnten Erfolges, plötzlich auf, hinaus in die Welt. Japan ist das Ziel seiner ersten großen Reise. Nach Überwindung unzähliger Widerstände erscheint am 24. Mai 1930 die erste Nummer des „Rittens der Unbefleckten“ in Nagasaki. Bald erreicht seine Auflage 10.000 Exemplare. Neue Pläne beschäftigen Kolbe. Er denkt bereits an Ausgaben in türkischer, arabischer, persischer und hebräischer Sprache, an eine Milliarde Leser. Schwierigkeiten in der Heimat verlangen seine Rückkehr und unterbrechen das Werk in Asien. Erst eine zweite Reise nach Japan rettet auch hier seine Gründung. Zwei Jahre später bricht dieser Apostel der katholischen Presse nach Indien auf. Auf der Durchreise landet er in Singapur, wo er einer späteren Herausgabe seiner Zeitschrift in malaiischer Sprache vorarbeitet. Ein großes Hemmnis verhindert die Verwirklichung des Zeitungsprojekts auf indischem Boden: der zweite Weltkrieg.

Der Sturm trifft Kolbe mitten unter seinen Brüdern in Niepokalanow, wohin er 1936 zurückgekehrt ist. Bomben fallen auf die Stadt der Unbefleckten. Am 19. September 1939 stehen die ersten motorisierten SS-Truppen vor den Toren des Friedens. Befehl: Alles räumen. Mit seinen Brüdern zieht Kolbe in ein Auffanglager. Noch einmal geht der Kelch vorüber, und 400 Brüder und Mitarbeiter können an die Stätte ihres Wirkens zurückkehren. Am 17. Februar 1941 schlägt die Gestapo aber endgültig zu. Kolbe wird verhaftet und in Auschwitz eingeliefert. Am 11. Juli des gleichen Jahres tut er den Schritt aus der Reihe, für einen anderen geht er den Weg in den Hungerbunker. 14 Tage später ist Kolbe noch am Leben und bei vollem Bewußtsein. Eine Phenolspritze macht der Marter ein Ende. Es ist der Vorabend von Maria-Himmelfahrt. Ein Augenzeuge, der die Reinigung der Bunker zu besorgen hatte, berichtet, wie er den toten Pater angetroffen hatte: „sitzend, den Kopf leicht geneigt und gegen die Wand gestützt, die großen Augen weit geöffnet, auf einen Punkt hinstarrend wie in Ekstase, sein Gesicht hell und leuchtend.“ Mit den Leichen der anderen Opfer wird auch die Kolbes verbrannt, seine Asche verstreut. In alle Winde, wie die Millionen Exemplare der von ihm gegründeten Zeitschriften und Zeitungen.

Auch heute aber lebt das Werk. Niepokalanow ist' zwar der neuen Invasion zum Opfer gefallen — als „Großbetrieb“ wurde es verstaatlicht und die Einrichtung abtransportiert —, aber der „Ritter der Unbefleckten“ erscheint, wenn auch überwacht, trotzdem in Warschau. Eine Gruppe von Brüdern aber teilt das Schicksal vieler Polen — die Emigration. In Wisconsin, Kenosa, USA, soll „Marytown“, ein neues Niepokalanow, erstehen. Pater Kolbes Leben und Tod — unerläßlich für alle, die nicht die Macht de großen, des ersten Wortes ahnen — wird Gerechtigkeit werden. Am 24. Mai 1948 wurde in Padua der Infor- mationsprozeß für eine Seligsprechung eingeleitet. So wird die Kirche vielleicht jenen Polen einmal auf ihre Altäre erheben, der das Dröhnen der Rotationsmaschinen in ein Gebet verwandelte, der Druckerschwärze und Papier in den Dienst eines Reiches und einer Königin stellte, die nicht von dieser Welt sind.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung