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In memoriam

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Am 20. Februar 1929 starb in Berlin Dr. Carl Sonnenschein, eine der größten * Führergestalten der sozialen Bewegung im deutschen und europäischen Katholizismus.

„Das Größte aber ist die Liebe.“ Dieses Wort des Apostels bewahrheitete sich bei Sonnenscheins Tod in des Wortes tiefster Bedeutung. Die Einheit der an seiner Bahre stehenden, trauernden Menschen aller Richtungen bewies, daß diese immer und überall dort eins ist, wo sie selbstlose Liebe sieht; daß die Liebe Brücken schlägt, die über alle Entzweiungen tragen, daß sich mehr als vor der Majestät des Todes alles beugt vor der Majestät Sonnenscheins. Er war eine einmalige Erscheinung, die ihrer Zeit weit vorauseilte, ein Mensch, der durch sein leuchtendes Beispiel weiterwirkt bis auf unsere Zeit, die seiner Person weit mehr Verständnis entgegenzubringen vermag, als seine Zeitgenossen. Sonnenscheins Sorge galt allen Leidenden, Bedrängten und Gestrandeten. Bezeichnend für ihn ist eine seiner Reden, in der er ausrief: „Unser ist nicht der Minister, sondern der Bahnhofportier, nicht der Postdirektor, sondern der Briefträger, nicht der Fabriksherr, sondern der Steiger.“ Er sah im Menschen das Ebenbild Gottes und lehrte Menschen wieder an Gott, Christus und die Kirche glauben durch seine praktische Nächstenliebe. Und Sonnenschein hatte eine eigene Auffassung von Führertum. Sie bestand darin, daß der führende Mensch im Grundsätzlichen nicht zurückweichen, daß er Grundsätze nicht preisgeben dürfe, um Masse und Anhang zu gewinnen. Er verstand besonders in den Studenten den sozialen Geist zu wecken. In einer Rede in Würzburg, die er vor Akademikern hielt, sagte er: „Wir brauchen Akademiker, die ihr Volk lieben und zu ihrem Volk stehen, deren Evangelium nicht die Distanz, sondern die Volksgemeinschaft ist. Weg mit der Monokelhaftigkeit und weg mit dem Kastengeist. Wir wollen zu unserem Volk gehören, wir haben gutzumachen. Wir wollen ein neues Studententum, das mit seinem Volk Hand in Hand geht.“ So schuf Sonnensdiein die sozialstudentische Bewegung, die wohl 1938 unterbrochen wurde, deren Geist aber in vielen jungen Menschen fortlebt. Dieser Priester war ein moderner Mensch, der sich an allen technischen Errungensdiaften freute und der es verstand, diese in den Dienst seiner Sache zu stellen. Er war rücksichtslos dort, wo es galt, für seine Schutzbefohlenen etwas zu erreichen. In dieser Hirtsicht war er von so manchem gefürchtet, denn er kam, wenn es sein mußte, unerwartet zu jeder Tag- und Naditzeit, weckte den Minister aus dem Schlaf, er kam mitten in der Nacht zu seinen Freunden, um Besprechungen zu halten. An ein geregeltes Leben war er nicht zu gewöhnen. Er war der ewig Ruhelose, der nicht rastete, bevor er nicht für seine Mitmenschen das erreicht hatte, was er wollte. Alle fanden bei ihm Rat und Hilfe, ob es Studenten oder angesehene Politiker waren, ob Arme oder Reiche, ob es seine italienischen Erdarbeiter waren oder die Arbeiter, aus den Elehdsvieiteln von Moabit in Berlin. Für Sonnenschein waren sie alle, gleich.

Sonnenscheins Vermächtnis besteht in dem großen Beispiel des persönlichen Opfers, das er gab. Not und Elend wären wohl geringer, wenn in jedem Menschen wenigstens ein Teil von dieses Mannes opferbereitem Geist vorhanden wäre. Als jemand bei seinem Begräbnis fragte, - wer der Verstorbene sei, erhielt er die Antwort: Das ist ein Priester, der kein Gehalt bekam und viele Tausende speiste und kleidete. Und Wilhelm Dehling sprach an seinem Grabe den Satz: Sonnenschein lebte wie ein Bettler und starb w ie ein König.

Das Beste aber, was über ihn gesagt werden kann, hat er selbst auf dem Dortmunder Katholikentag 1927 ausgesprochen:

„Die Zeit ruft zur Erfüllung der Charitaspflicht. Vor den heidnisdien Menschen der Großstadt ist Apologetik des Wortes fruchtlos, sind Vorträge aus der Geschichte wie chinesisches Schauspiel. Damit deckt man keinen Tisch! Damit düngt man keinen Garten! Damit heilt man kein Fieberi Wir braudien kongeniale Kräfte, die diesen Menschen eingehen. Nur eines reicht an die heran, die das Christentum nur mehr aus den Erzählungen ihrer Vätef kennen, nur, eines werden sie begreifen, die am eigenen Leibe, an eigener Seele, an eigener Not erlebte Güte dieser Religion in ihren Vertretern. Daß der Sebastian von' Wedding bis in den Keller geht und bis zum Speicher klettert, daß er, der Christ, der Katholik, der Priester, sich um die Heiden kümmert, daß er die Kinder wäscht, daß er den Trinker betreut, daß er den Verlorenen ein gutes Wort sagt, das begreifen sie. Solcher -Charitas, die sich als selbstloses Christentum betrachtet, wird niemand widerstehen und “ leuchtend werden sie dieses Sebastians Leichnam durch die grauen Straßen ihrer großstädtischen Heimat tragen.“

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