6743668-1966_51_06.jpg
Digital In Arbeit

Janos Kadars Kongreßbilanz

Werbung
Werbung
Werbung

Das neunte Mal, da sie sich in ihrer bewegten Geschichte trafen, tagten die ungarischen Kommunisten im Budapester Gewerkschaftspalast. Dieses ungefällige Bauwerk liegt im Blickwinkel des Stalin-Sockel- Kolosses und der vorwärts schreitenden kleinen Bronzestatue Lenins. Hinter beiden realistischen Mahnmalen, im romantischen Stadtwäldchen, drehen die Kunstläufer ihre

Schlingen, ihre Paragraphen, ihre Sprünge auf dem Eis. Zwischen den von cfer Rednertribüne aus verklungenen kühnen Worten und dem geschilderten Anblick besteht ein gewissermaßen symbolischer Zusammenhang.

In seiner Vierstundenrede beschimpfte Janos Kadar im selben Atemzug die Vereinigten Staaten, die Bundesrepublik und China. Hier kehrte er bald anlaufende diplomatische Beziehungen hervor, dort ließ er wissen, daß allem Gezeter zum Trotz kein echter Bannfluch gegen Peking ins Auge gefaßt würde. Jugoslawen, Rumänen, ja sogar Tschechoslowaken bekamen — auch vom Chefideologen I. Szirmai — Nationalismuszensuren erteilt, während gleichzeitig das Hohelied „Einheit des sozialistischen Lagers" am laufenden Band ertönte. Es wurde der Koexistenz allgemein das Wort geredet, der KPU-Chef stellte sich jedoch gegen Westreisen seiner Untertanen. Unter 50 soll man auf Einladung bloß alle zwei Jahre und auf Grund von Devisenzuteilung bloß alle drei Jahre dorthin fahren können. Für Jugendliche zwischen 16 und 24, für Ärzte, Ingenieure, Chemiker, Architekten, Techniker sei diese Himmelsrichtung im Prinzip überhaupt verpönt. Gewiß, auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel. Diese Ausnahmen kennt aber die Öffentlichkeit nicht, jedoch ausschließlich der Sicherheitschef Karoly Nemeth. Wollen kapitalistische Persönlichkeiten oder Institutionen ungarische Partner zu Tagungen oder Konferenzen laden, dann wenden sie sich am besten keineswegs an die Auserwählten selber, sondern viel mehr an die Budapester Kollektiven, denen der Professor, der Wissenschaftler, der Literat angehört. Von der Kollektive nominierte Ungarn erhalten nämlich neuesten Erfahrungen zufolge immer den Ausreisepaß. Andere nicht oder seltener.

Kann es sich ändern?

Nachdem Budapest kulturelle Beziehungen mit dem Westen heute an scheinend so versteht, daß man ihm etwa vorschreibt, wen er zu sich bitten darf, zeigt das Regime den parteilosen Massen einerseits das Zuckerbrot völliger Gleichberechtigung im Staat, anderseits aber sofort die Peitsche absoluter kommunistischer Vorherrschaft in sämtlichen Belangen. Demokratisierung des Verwaltungsapparates heißt es da, Zentralisierung auf der ganzen Linie, so lautet aber schon die Parole im nächsten Satz. Dabei stellt der Schöpfer und auch der derzeitige Beherrscher des ungarischen Sicherheitssystems, B. Biszku, seinem eigensten Machtbereich kein gutes Zeugnis aus. Manche KPU-Funktio- näre bezeichnet der Vizepremier und zweite Mann im Lande wörtlich als größenwahnsinnig, als unfehlbaranmaßend, als rechtsbrecherisch, als rachesüchtig, als postenhungrig, als unwissend und als prinzipienlos. Bedenkt man, welche Gewalt ein KPU- Funktionär — besonders auf dem Lande, wo er die für die Versorgung verantwortlichen alternden Bauern schikaniert — ausüben kann, offenbart sich erst dann, wie sehr Bela Biszku das „heißeste Eisen“ angerührt und wie tief er auch der gesamten Öffentlichkeit aus dem Herzen gesprochen hat. Da der Budapester Politiker zur Abschaffung der Mißstände Disziplinarmaßnahmen androht, brennt jedermann die Frage auf den Lippen: Kann sich alles dies jemals ändern und wollen das überhaupt die Inhaber der Macht? Die Ursachen des ungarischen Mißmuts sind nunmehr von berufenster Stelle eröffnet worden, ebenso wie die Problematik des „neuen“ Wirtschaftskurses.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung