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Kletterfahrt im Wienerwald

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Zur Welt des Wiener Bergsteigers gehört der Peilstein. In den Felsen dieses Wienerwaldberges hat er meist sein erstes näheres Berühren mit dem Feld erlebt und mit dem. dort erworbenen Können ist er hinausgezogen auf die Wände unserer Alpen. Zu den Peilsteinfelsen kehrt er aber immer wieder zurück, denn sie sind seine Bergheimat.

Mit einem Ruck bleibt die Straßenbahn in Mödling stehen. Arbeiter, in deren Gesicht deutlich die Freude über das nun herbeigekommene Wochenende zu sehen ' ist, Kleingärtner, die mit Baumsetzlingen und Gartengerät in ihre Wochenendhäuser fahren, Schüler, die nun für einen Tag dem pythagoreischen Lehrsatz und den Feldzügen Hannibals entrückt sind, und wir, mit unseren großen, schweren Rucksäcken, drängen sich dem Ausgang zu.

Für uns fängt das Vergnügen damit an, die fünfundzwanzig Straßenkilometer von Mödling nach Raisenmarkt am Fuße des Peilsteins hinter uns zu bringen . . .

Hell schlagen die Nägel unserer Bergschuhe auf das Straßenpflaster. Fünfundzwanzig Kilometer sind nicht weit — aber der Weg zieht sich! Und es ist schon dämmrig geworden, als wir dann von Raisenmarkt den Weg zum Peilsteinhaus emporwandern. Der Rucksack drückt auf den Schultern — die Fußsohlen brennen ... aber heißt es nicht: nur der die Berge liebt, kann sie bezwingen!

O ja, wir lieben die Berge!

Und dort zwischen den Bäumen hindurch schimmert auch schon das Licht von der Hütte . . .

Auf dem großen Herd in der Küche der Schutzhütte brodelten und dampften früher die guten Sachen, die ein hungriger Bergsteigermagen begehrte: Gulasch, Kaiser-schmarrn, Palatschinken . . . Heute überreicht jeder der Ankommenden der Hüttenmutter feierlich ein Sackerl mit Erbsen zum Einweichen für den nächsten Tag. Und wo nun das Auge in der Küche hinblickt, schaut es Erbsen, alle Häferl und Schüsseln sind voll mit eingeweichten Erbsen; auf dem Herd, auf dem Tisch, auf dem Kasten, auf der Kredenz: überall Erbsen!

Aber draußen im Gastraum geht es hoch her, eine Gitarre klimpert und es wird dazu gesungen vom Buam, der beim Edelweißpflücken abstürzte, vom Wildschützen, der zeitig in der Früh sein Stutzerl nimmt, vom Dirndel mit den schwarzen oder den braunen Augen, und vom Bergsteiger, dessen Reich die sonnige Höh' ist...

Warum sollte es denn nicht so sein? Das Leben ist doch trotz allem so schön!

Ein frischer Morgenwind bläst um die Wände. Die ersten Seilschaften steigen über die Felsen empor. Früher wurden die Schwierigkeiten der Kletterwege nach Graden gemessen: leicht bis äußerst schwierig. Dies ist nun heute anders! Die Wege werden eingeteilt in solche, wo man einen lieben Verwandten in einer kalorienreichen Gegend braucht und in solche, die diesen glücklichen Lebensumstand nicht notwendig haben. Und es heißt nicht mehr: „Noch fünfzig Meter bis zum Ausstieg!“ sondern

der Seilschaftserste, der irgendwo an einem Eckerl von einem Fleckerl an den Felsen klebt, ruft zu seinem Gefährten hinunter: „Fünfhundert Kalorien brauchte ich noch, dann hätt' ich dieses Überhangerl der-packt!“ — Aber er packt den Überhang dann auch so, denn das „Ich will“ wiegt auch noch seine fünfhundert Kalorien auf!

In den vielen Sportgeschäften gab es einst die wunderbarsten Seile und die herrlichsten Kletterschuhe zu kaufen — der Krieg hat nun alle diese Dinge verschluckt.

Die Sonne scheint auf den festen, grauen Fels und dieser lockt und winkt wie je zuvor! Mangelnde Ausrüstung — davor wird in alpinen Lehrbüdiern viel und immer wieder gewarnt. Aber kann man, wenn man jung ist und die Sonne lacht, diesem hellen Locken der Felsen widerstehen?

Auf dem Vegetariersteig klettern drei mit einem Strick, der wahrscheinlich ursprünglich nicht für eine Felswand, sondern für frischgewaschene Unterhosen und Leintücher gedacht war; und über den Jüngling, der dort gerade in Socken in den Kamin einsteigt, wird die Mutter morgen, wenn sie die Löcher sieht, die der Fels in diesem Kletterschuhersatz gerissen, auch keine große Freude haben. Interessant sind aber die Barfußgeher anzusehen, wenn sie im Schotter unterhalb der Wand, vorsichtig und wehleidig auftretend, den Einstiegen zustreben — sie werden oft gefragt, ob sie, weil sie so vorsichtig gehen, Angst davor haben, Löcher in die Mutter Erde zu treten.

Auch das Zusehen, wenn eine Seilschaft sauber klettert, macht Freude. Wir legen den Kopf weit in den Nacken zurück und sehen den zwei dort oben zu . . .

Vorsichtig tastet sich der Kletternde an winzigen Griffchen höher, rastet dann auf einem kleinen Standplatz, ruft seinem Gefährten, der ihn durch einen Mauerhaken sichert und jede seiner Bewegungen aufmerksam beobachtet, ein paar Worte zu, und klettert dann wieder weiter . . . Kameraden !

Wie oft muß man dieses Wort doch hören uhd wie sehr ist es durch den Mißbrauch, der damit getrieben wird, schon entstellt und verzerrt geworden. Aber die zwei da oben in der Wand, das sind Kameraden! Das Seil verbindet sie, und einer ist hier wirklich für den anderen da. Jetzt sind sie beim Ausstieg und reichen sich die Hände ... Alles Schwere im Leben ist zu überwinden, wenn man einen Kameraden hat!

Es wird Abend, wir sind auf dem Heimweg. Wir singen unser altes Bergvagabundenlied „Wilde Gesellen vom Sturmwind umweht . . .“ Singend ist es leichter zu wandern, und es ist auch schöner. Nur unserem Mundharmonikaspieler geht beim bergauf der Straße immer die Luft aus — aber daran ist sein großer Rucksack schuld.

„ ... uns geht die Sonne nicht unter f singen wir, und der Abendwind trägt unser Lied davon. Nein! Uns geht die Sonne nicht unter! Was man auch über uns Jungen heute sagen mag — wir sind nicht leer und wir sind nicht ausgebrannt, wir wissen noch mit der Zeit, in der wir leben, etwas anzufangen — so wird auch diese mit uns etwas anzufangen wissen , ,.

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