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Meer, Meer, Meer

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Wieder hör' ich deinen Gesang, und kein Takt wiederholt sich. Doch 'jeder singt mir bis in das staubige Wanderblut von einem verlorenen Anfang. Deswegen schaukeln wir uns wie Kinder in deinem Schoß, zu lauschen den Melodien, den sternge-bornen.

Urmutter, welche den Schwimmer behutsam wie einen Säugling nimmt, weil er noch nicht versteht, was die Tiefe birgt. Wiegengesang. Anderswo keucht ein Stahlkoloß trotz der Maschinen, die sich selbst überfordern; und in der Luxuskajüte döst vielleicht später ein Hummer, dessen Fühler weit wie Antennen spüren. Niemand hat dich ermessen. Weder die Pfeile des Kanus noch das Floß des Odysseus, der am längsten dich kannte. Denn deine Wunder hast du ihm alle geschmeichelt mit liebenden Armen und deine Wut gewiesen mit jagender Mähne.

Es war eine wilde Ehe... Aber er wußte nur um das hölzerne Pferd, mit dem er die asiatische Frage gelöst, und um Ithaka, wo ihm Pene-lope strickte. Also ahnte er nicht, daß du auch Kirke warst, welche Männer in Schweine verwandelt, und der Mund auch der flschleibigen Sirenen, von einem Erdteil zum andern werfend die Lieder, locker, gekrönt von Silberkämmen.

Urmutter, aus der die Erdteile ragen wie Wracke, die sie noch nicht geboren oder noch nicht verschlungen. Und anders nennt dich ein jeder in Angst oder Dank. Der arme Eskimo-flscher, der träumende Griechenknabe, der goldtolle Kaufherr. Sie hören dich anders.

Melodie ohne Ende... O Laubgrün des Morgens. Ein wenig milchig, wenn nur die Kronen dich der Agaven wissen, die sich verausgaben völlig wie Kriegerswitwen für Kinder. Du aber räkelst dich erst zwischen roten Felsen und blondem Sand. Doch lockt schon der Himmel auch, deine Brüste zu zeigen, die prallen, und sie schwellen gewaltig im Mittag.

Es fächeln die Fischernetze gespenstisch ein wenig zwischen den Takten, auch segelt die Möwe dicht, melancholisch im Fraßflug. Urmutter, wer hat Gestalten an seinen Rand geworfen wie du? Die einsame Distel, die blaue, dazwischen silberne Muscheln, auch den Palmwedel nährst du.

Und bald schon ein Cap, St Nazaire oder St. Raphael, wo du dich an Felsen schleuderst. Zuflucht und Angst in. eirgWOydoi. dich zeigst. Es, .stjnfct, nach Haufen,,, von, Tang, und, .nach Kadavern von Fischen. Nach der Siedlung der „Sonnenfreunde“ alle nackt und heiter, dort im Winkel des Bosporus. Weit draußen kämmen rote Lastkähne und weiße Jachten. Das tolle Marseille erst, wo niemand zum Meer schaut, doch alles fiebert von deiner Sage. Alles lebt nämlich von dir: der Negersoldat, der am Hafenfort einschlief; das Haustöch-terchen, das im abgeschirmten Salon sich freut der namhaften Ahnen; die Bande der jungen Taschendiebe; die Not auch der greisen Fergen; die Salzfabrik lebt von dir und die Monsterhäuser, von Cor-busier gebaut; die Betonmole, wo Kräne bis in den Schiffsbauch senken den Überfluß ganzer Erdteile. Sie alle sind deine Geschöpfe. Urmutter, ich höre wieder deinen Gesang, wie er abends zu Blei ergraut und endlich sich hochwirft wie geschmolzenes Metall. Der Mond aber lächelt onkelhaft über das riesige Weib, das sich krümmt vor Gebären, während er in ironischer Kälte schielt.

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