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MLF - vom Osten aus gesehen

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In Leningrad nieselte es. Ein trauriger Novemberhimmel lastete über der Stadt. Man führte uns hinaus zum Ehrendenkmal: Eine quadratisch unterteilte riesige Grasfläche vom Ausmaß mehrerer Sportstadien, jedes Grasquadrat durch einen schlichten Stein gekennzeichnet, auf dem eine Jahreszahl aus den vierziger Jahren steht, das Ganze im Hintergrund abgeschlossen durch eine breite Denkmalwand. Kaum ein Mensch in der trostlosen Weite. Ein Lautsprecher klagt leise Trauermusik in die große Stille hinein. Hier liegen 630.000 Menschen begraben. Sie sind alle gestorben in den 900 Tagen der Belagerung Leningrads durch die deutschen Armeen im zweiten Weltkrieg. 630.000 Kinder, Frauen, Männer. Vor dem Krieg zählte Leningrad zwei Millionen Einwohner. Es gibt hier keine Familie ohne ein Opfer der Belagerung.

Eine Woche später ein friedlicher Sonntagvormittag in Warschau. Es war Allerheiligen, die Menschen strömten in die Kirchen, mit Chrysanthemen im Arm auf die Friedhöfe. Aber in Warschau ist die ganze Stadt ein Friedhof. Vor dem Krieg.’ zahlte diese äußerlich’ herbe, in Äsenfei4y sen elhn

Stadt 1,3 Millionen Einwohner, und von diesen sind auch hier während der Kriegsjahre, unter der deutschen Besetzung, über 600.000 ums Leben gekommen. Keine polnische Familie ohne ein Opfer — und allzu viele der Davongekommenen sind für ihr Leben gezeichnet. An diesem friedlichen Allerheiligenvormittag in Warschau stieß der Wanderer fast in jeder Straße auf eine Art Trottoiraltar: ein Berg von Blumen, brennende Kerzen davor, etwa zehnjährige Mädchen in Pfadfinderinnenuniform, die unbeweglich Wache standen. Und immer wieder Frauen, Männer, die Blumen brachten, Kerzen anzündeten. Wer hinzutrat, entdeckte an der Hausmauer jeweils eine schlichte Tafel: „Stanislaw Gozdzik, am 2. 9. 1944 von den Deutschen erschossen.” Und so von Straße zu Straße: von den Deutschen erschossen, von den Deutschen erschossen, von den Deutschen erschossen

Nur temporärer Wohlstandszauber?

Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob es nun wirklich „von den Deutschen” oder differenzierender „von den Hitler-Faschisten” heißt. Es ist in der Bundesrepublik seit 1949 allzu viel geschehen, was es den Völkern im Osten erschwert, im heutigen (West-) Deutschland etwas grundsätzlich von Hitler-Deutschland Geschiedenes zu sehen. Ein „Fall Oberländer”, ein „Fall Krüger”, eine Rede Seebohms wiegen durch ihre psychologische Wirkung hundert Beweise demokratischer, friedlicher Gesinnung auf. Denn sie nähren die tief im Unbewußten verwurzelte Befürchtung, daß „die Deutschen” sich doch nicht geändert haben, daß alle demokratische Friedfertigkeit nur ein temporärer Wohlstandszauber sei. Dieses Trauma bestimmt auch die offizielle Politik, teilweise zumindest. Es ist im Osten ein wesentlicher Bestandteil der polnischen Realität. Peshalb ist jede westliche Politik, die es nicht berücksichtigt, in gefährlicher Weise irreal.

Seit im Westen das Projekt einer multilateralen Atomstreitmacht (MLF) diskutiert wird, die der Bundesrepublik — „den Deutschen”, man verzeihe, aber wir haben hier die Stimmung im Osten wiederzugeben — ein Mitbestimmungsrecht beim Beschluß über den Einsatz von Nuklearwaffen zugestehen würde, zeigt man sich im Osten in Sachen „deutsche Gefahr” alarmiert wie — seit Kriegsende — noch nie. Überall erlebten wir dasselbe: Wir waren in den Osten gefahren, um uns selbst zu informieren, aber kaum saßen wir am Diskussionstisch, überfiel man uns mit Fragen, wollte man von uns Informationen haben über die Chancen einer Verwirklichung des MLF-Projektes.

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