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Nach Hitler wieder Durer

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Als vor wenigen Monaten die letzten fünf Türme des Märzfeldes, wo Hitler einst seine Riesenaufmärsche zelebrierte, in Schutt zusammenfielen, hat Nürnberg wieder eine Etappe seines hartnäckig verfolgten Ziels erreicht: das Image der „Stadt der Reichsparteitage“ endgültig in die Vergangenheit zu bannen.

Heute zählt die fränkische Metropole beinahe eine halbe Million Einwohner und bildet zusammen mit dien in einem 20-Kilometer-Radius erreichbaren Städten Fürth, Erlangen und Schwabach einen Ballungsräum, der sich gut und gern die „heimliche Millionenstadt Nordbayerns“ nennen läßt. Großindustrien wie MAN, Siemens-Schuckert, AEG, Grunding, das Versandhaus Quelle und manch andere bewirkten ein Wirtschaftswachstum von einem Ausmaß, wie es nur in wenigen anderen Gebieten der Bundesrepublik anzutreffen ist. Daß diese Entwicklung trotz der Zonengrenze, die willkürlich die alten Handelsbeziehungen mit Thüringen und Sachsen kappte und Franken in eine bis dahin nie gekannte Randlage abdrängte, überhaupt möglich wurde, erklärt sich nicht zuletzt aus dem beinahe sprichwörtlich gewordenen „Nürnberger Witz“. Nicht eben witzig, aber sehr wohl gewitzt sind diese Mittelfranken, die es seit den Tagen H e n-leins, der die erste Taschenuhr bastelte, bis heute verstehen, ihren praktischen Verstand und ihr technisches Geschick in erfindungsreiches und gewinnbringendes Tüfteln umzusetzen. Und die Wege, die ein anderer Nürnberger, Michael Behaim, zu Kolumbus' Zeiten mit seiner erstmals kugelförmig gestalteten Weltkarte aufzeigte, geht heute der Nürnberger Tand in nie gekannter Vielfalt — vom Bleistift bis zur Turbine, vom Lebkuchen bis zum Tonbandgerät, vom Spielzeugauto bis zum TEE-Zug, vom Rasierpinsel bis zum Riesentransformator. Reißzeug und Reißverschluß, Velos und Lastwagen, Feuerzeug und Waschmaschine, Photoapparate und Vergaser gehen von der Stadt am Fuße der Kaiserburg in alle Welt.

Europas Autobahnsystem

Ebenfalls nicht unbeteiligt an dieser Entfaltung war die in den letzten Jahren energisch vorangetriebene Verkehrserschließung. Die neue Autobahnverbindung nach Würzburg eröffnete den raschen Zugang zu den Industriezentren an Rhein und Ruhr und der erst kürzlich dem Betrieb übergebene Autobahnzubringer nach Hamburg rückte auch den Norden der Bundesrepublik um eine gute Autostunde näher. Geplante Trassen nach Regensburg und Pilsen werden den Personen-und Güterverkehr mit dem Osten entscheidend verbessern, und so scheint es denn beinahe symbolisch, daß in den nächsten Jahren an Nürnbergs Grenzen der größte Autobahnstern Europas entstehen soll. Ein anderes, fast mehr politisch als wirtschaftlich bedeutsames Projekt bahnt sich mit dem RheinMain-Donau-Kanal an. 1970 wird die Großschiffahrtsstraße von Bamberg her Nürnberg erreichen, und bis Anfang der achtziger Jahre soll mit einer kühnen Überquerung des fränkischen Jura die Verbindung des Rheins zur Donau fertiggestellt und damit der Wasserweg nach dem Schwarzen Meer ein für allemal offenstehen.

Trotz all dieser enormen Modernisierung hat sich Nürnberg, das ehemalige „Schatzkästlein des Reichs“, noch immer etwas von seinem alten, städtebaulichen Reiz erhalten. Zwar ist der Wiederaufbau in manchem mißglückt, und andere Städte haben ihre Neubauten der Historie getreuer nachgebildet. Trotzdem! Wer heute vom Bahnhof aus, am Dicken Turm vorbei, die breite, stolze Königsstraße mit der noch immer imposanten Mauthalle zur Lorenz-Kirche hinunterspaziert, in der Veit Stoss mit dem Engelsgruß und dem Sakramentshäuschen unvergängliche Meisterwerke schuf, verspürt unwillkürlich etwas vom Hauch großer, reichsstädtischer Vergangenheit, der auch jetzt nicht aus Nürnbergs roten Sandsteinmauern gewichen ist.

1971: Dürer-Jahr

Die 13 dunklen Jahre zu Beginn des zweiten Drittels dieses Jahrhunderts bedeuten relativ wenig in der langen, großen Geschichte Nürnbergs. Zwar kann ein Julius Streicher nicht durch einen Albrecht Dürer neutralisiert werden, aber an Dürer kann man zeigen, daß die tausendjährige Geschichte Nürnbergs nicht identisch ist mit dem Tausendjährigen Reich. Die auf Hitlers Märzfeld entstehende Trabantenstadt LangWässer, die für 60.000 Menschen geplant, durch eine U-Bahn mit dem historischen Stadtkern verbunden werden soll, scheint diese Distanzierung zu versinnbildlichen. Und das für 1971 angekündigte Dürer-Jahr wird nach dem Willen der Veranstalter unter anderem der Entwicklung eines historisch-authentischen Nürnberg-Image dienen und manche oft bizarren Klischees entrümpeln — nicht nur zum eigenen Nützen, sondern auch im Interesse ganz Deutschlands.

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