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Nur Wunder können noch helfen

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Aus dem Schnürboden kommt die Götterhand der Theatermaschine, Sonja steigt auf und entschwebt — so grotesk, so einfach schließt Harald Sommers Szenenfolge „Ein unheimlich starker Abgang“, die vor kurzem in Graz uraufgeführt und nun in Basel nachgespielt wurde. Es ist der Ausweg aus einer Dramaturgie, der kein anderer mehr bleibt, gleichzeitig aber als Coup, als Gag ein Hinweis darauf, daß auch aus dem Räderwerk dieser Gesellschaft für Außenseiter kein anderer Weg herausführt. Nur Wunder können noch helfen, die Dramaturgie ist dem Wirklichkeitsbestand angemessen. So ist es, ist es so?

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Aus dem Schnürboden kommt die Götterhand der Theatermaschine, Sonja steigt auf und entschwebt — so grotesk, so einfach schließt Harald Sommers Szenenfolge „Ein unheimlich starker Abgang“, die vor kurzem in Graz uraufgeführt und nun in Basel nachgespielt wurde. Es ist der Ausweg aus einer Dramaturgie, der kein anderer mehr bleibt, gleichzeitig aber als Coup, als Gag ein Hinweis darauf, daß auch aus dem Räderwerk dieser Gesellschaft für Außenseiter kein anderer Weg herausführt. Nur Wunder können noch helfen, die Dramaturgie ist dem Wirklichkeitsbestand angemessen. So ist es, ist es so?

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Harald Sommer, ein 35jähriger Autor aus Graz, stellt in seinem Bühnenerstling Szenen aus dem Leben eines Mädchens namens Sonja zusammen, charakteristische Szenen, beliebige Szenen (was in diesem Fall das gleiche ist). Vor- und Rückblenden folgen einander, die Reihenfolge im Spiel wird allein durch einen überlegten Wechsel der Emotionslagen bestimmt. Der Reihe nach ergäbe sich etwa folgender Lebenslauf: Sonja, ein Mädchen aus „normalem Haus“, wird als Kind vergewaltigt, kommt früh in den Kinderhort, kriegt ein Kind, kommt in ein Erziehungsheim, wird abermals schwanger usw., dann reißt's ihr „am Nerv“ und sie erschießt ihren Freund, außerdem den Psychiater, der sie untersucht hat, und auch noch andere. Dann steht sie vor Gericht, wo eine Gesellschaft, deren einzige Gefühle gegenüber Außenseitern sich in Rachegedanken erschöpfen, sich in einen Rausch von Blutdurst hineinsteigert, aus dem nur noch der Theatergott Erlösung bringen kann. Sommer hat selbst schon an einem Faust-Stoff herumgebastelt; sein Schluß ist eine höhnische Paraphrase auf Goethes „gerettet“. „Aber gällezi, s' git Uswüchs“, sagt edne der Gestalten.

Erzählt man den Stoff der Reihe nach, läßt sich leicht erkennen, daß es sich im Grunde um ein altes naturalistisches Motiv handelt. Und- m der Tat besteht der einzige Neuigkeitswert von Sommers Geschichte in der modernen Anordnung der Szenen, nach der Erkenntnis, daß man aus einer Biographie ohnehin nichts erkennen kann außer Bruchstücken, aus denen man sich dann einen Reim machen muß. — Vergleicht man etwa mit Wolfgang Bauer, so sieht man nach wenigen Sätzen, um wieviel zeitgemäßer etwa „Magic afternoon“ ist. Was er allerdings mit Bauer gemein hat, ist Sommers Begabung, Dialoge zu schreiben, Klischees der Umgangssprache auszuwerten, so daß sie sich selbst und die Denkweise, aus der sie entspringen, in aller Schärfe enthüllen. Das allein, nicht das Stück selbst, berechtigt dazu, in Sommer eine neue Hoffnung für die deutsche Bühne zu sehen. Dazu müßte es ihm allerdings gelingen, nicht nur eine Figur zu gestalten, sondern mehrere. Hier laufen neben Sonja fast nur Karikaturen einfachster Machart über die Bühne. Dadurch wird der Wirklichkeitsbestand nun doch über Gebühr vereinfacht, auch wenn der steirische Dialekt, in dem das Stück ursprünglich geschrieben ist, diese Wirklichkeit evozieren will. Für die schweizerische Erstaufführung hat Peter Höltschi eine schweizerische Dialektfassung geschaffen, die versucht, auch hier mehr Wirklichkeit beizubringen. Das ist auch angemessen, verändert aber Nuancen: Im Schweizerischen wird einiges härter und prägnanter, was im österreichischen noch einen Anflug von „böser Gemütlichkeit“ hat. Die Inszenierung in Basel (Jochen Neuhaus) legt es auf schroffe Gegensätze an. So ist etwa das Bühnenbild von Wolfpang Mai klinisch klar: Kunststoffwände, Plexiglas, ein Bild wie für ein Stück von übermorgen. Darin spielt nun allerdings 19. Jahrhundert, gewürzt mit ein paar Härten aus dem 20. In den Pausen zwischen den Szenen spielt eine Drehorgel „Machen Sie doch bitte kein so böses Gesicht“, bis einem die Melodie quallig aus den Ohren quillt. Die Szenen folgen einander im schroffen Wechsel zwischen laut und leise; Sonja ist ganz Individuum; die anderen sind ganz Larven. Manche dieser

Gegensätze verschärfen über Gebühr.

Die Hauptlast hat Maja Stolle zu tragen. Und wie sie sie trägt. Sie darf nicht konsequent ein Schicksal durchspielen, sondern muß unentwegt in diesem Schicksal hin und her springen, sanft sein bei Freddy und bösartig beim Psychiater, spielend mit den Kindern und trotzig vor Gericht; sie ist gewissermaßen von Szene zu Szene in eine andere Seelenlage verwiesen. Wie Maja Stoll lies leistet, das allein wäre den Abend wert.

Diese Aufführung zeigt, daß nahezu alles, was zur Zeit im Basler Schauspiel geschieht, zumindest ins Interessante, ins höchst Ansehenswerte gerät. Von welchen deutschsprachigen Theater kann man dies zur Zeit ohne Einschränkung sagen? Ein paar Leute gingen in der-Pause; die anderen waren angetan bis begeistert.

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