6776476-1969_24_11.jpg
Digital In Arbeit

Polnische Passion

Werbung
Werbung
Werbung

DIE GROSSEN ERZÄHLUNGEN. Von Jerzy Andrejewski. Verlag Langen Müller. 240 Seiten. DM 18.50.

Es stimmt leider, daß die Schriftsteller im Osten heute wieder gezwungen sind, sich bei ihren Anspielungen und Allegorien auf das absolute Gehör ihrer Leser oder Zuhörer zu verlassen. Dazu gehört auch Jerzy Andrejewski (Jahrgang 1909), der vielen als einer der bedeutendsten Schriftsteller Polens gilt. Er ist ein großer Stilist, ein trefflicher Psychologe, ein Meister des Dialogs und der Komposition. Mit dem Roman „Asche und Diamant“ aus dem Milieu der Untergrundbewegung zu Kriegsende gelang ihm 1948 der Durchbruch in die vordersten Bereiche der engagierten Literatur. Es folgten: „Finsternis bedeckt die Erde“ wider die Dogmatiker, die Inquisitionen inszenieren, eine der kühnsten epischen Auseinandersetzungen mit dem Kommunismus, „Die Pforten des Paradieses“, ein Gleichnis aller ideologischen und politischen Massenbewegungen, der Picasso-Roman „Siehe, er kommt hüpfend über die Berge“ und als vorläufig letztes bedeutendes (in Polen verbotenes) Prosastück „Die Appellation“. Daneben schrieb dieser sensible Autor eine Reihe tiefer und schöner Erzählungen. In seiner Jugend ein glühender Katholik (von Mauriac und Bernanos beeinflußt), war er aus Enttäuschung über das Versagen der liberalen Demokratie angesichts von Krieg und Hitlerdik-tatuir Kommunist geworden, aber, vom Stalinismus enttäuscht, 1957 aus der Partei wieder ausgetreten. Im Frühjahr 1968 war er von Gomulka als ein „vom Westen inspirierter Aufwiegler“ bezeichnet worden. Gleich Kolakowski hatte er im Warschauer Schriftstellerverband die offizielle Kulturpolitik kritisiert Als Truppen seines Landes nach Böhmen einrückten, legte Anrirejewaäci ,;aus Schmeioa. ... und Schande“i. .Protest gegen die Invasion ein. Die fünf „Großen Erzählungen“ sind unterschiedlich. In der poetischen Novelle „Der goldene Fuchs“ träumt ein phantasiebegabter Knabe ein Tagmärchen und erlebt am Ende die Enttäuschung an der Wirklichkeit. In „Ein Paradiesvogel“ ersinnt ein alternder Mann ein Ph'antasiegebilde als Abwehr gegen die ihm überlegene Jugend. In der Erzählung „Die Reise“, im Zusammentreffen zwischen einem Älteren und einem Jüngeren der polnischen Widerstandsbewegung, taucht das Hauptmotiv scharf umrissen auf: Das Erbärmliche einer Mensch genannten Kreatur, die den Mitmenschen mit einem Unmaß an Erniedrigung und Gewalttätigkeit heimsucht. In der besten und ergreifendsten Erzählung des Bandes: „Der Appell“, der Schilderung eines Arbeitstages (nichtjüdischer) polnischer Häftlinge im Konzentrationslager Auschwitz, trifft sich Andrejewski mit Kolakowski. Dessen Teufel hatte in seiner Pressekonferenz erklärt, daß der Satan nur dort voll in Erscheinung trete, „wo sich Grausamkeit um der Grausamkeit willen, Demütigung um der Demütigung willen vollziehen, wo Tod und Leid Selbstzweck sind“. Als am Appelltag wegen eines abgängigen Häftlings (dessen Leiche später in einem Winkel gefunden wurde) SSSchergen und Kapos außer sich vor Wut über die Lagerinsassen herfielen, daß „die Schreie der Henker und der Opfer in eine Stimme menschlicher Qual zusammenschlugen“, und schließlich ermattet abließen, da nutzte einer der Häftlinge, ein junger Warschauer Student, die Erschöpfungspause zum Überlegen. Die Illusion von innerer Freiheit und Menschenwürde war längst überwunden. Man hatte sich schließlich Tag für Tag an alles gewöhnt: an Leiden, Erniedrigung und an den Tod. Nur an das Eine nicht: „Das Böse, dessen der Mensch fähig ist, dieser Abgrund, in den man aus nächster Nähe mit eigenen Augen blicken muß, um an ihn zu glauben, diese Maßlosigkeit an Grauen, das in den menschlichen Wesen schlummert — dieses Entsetzen überschreitet alles, was der Mensch zu erdulden imstande ist.“ „Das Leiden hat seinen Platz in der Ordnung der Welt. Ich bleibe ich, wenn ich leide, ich bleibe ich, wenn ich sterbe. Das bedeutet etwas, das ist eine Hoffnung. Das kann ein Sieg sein. Aber das Böse? Er fand keine Antwort darauf.“ Im harten Realismus, in Dialogen und Reflexionen vermittelt, der Autor ein Stück polnischer Passion mit der Unmittelbarkeit des Augenzeugen, des „Betroffenen“, alles, was die Humanität ihrer eigenen Vernichtung noch abringen

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung