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QUERSCHNITTE

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Hilfe für den armen „Primus“

Frankreich kennt eine nette Gewohnheit: Jedem Vorzugsschüler wird am Ende des Schuljahres auf Kosten des Staates ein schönes Buch als Anerkennung überreicht. Natürlich als Geschenk. Die österreichischen „Primusse“ dagegen gehen leer aus — wenn man den freundlichen Spott, den manche Vorzugsschüler einstecken müssen, abrechnet. Sie sind wirkliche „Primi inter pares“, wie die Römer sagten, „Erste unter Gleichen". Warum aber diesen österreichischen „Primussen“ nicht die Vorteile des französischen Systems einräumen? Gar so zahlreich sind die Vorzugsschüler auch in Oesterreich nicht gesät, und die Summen, die zum Ankauf der notwendigen Bücher erforderlich wären, sind so gering, daß sie nicht einmal das doch so schmale österreichische Kulturbudget ins Wanken bringen könnten.

Womit eigentlich alle Ein wände gegen die Einführung dieser netten französischen Gewohnheit in Oesterreich sich erübrigen. Die Verleger hätten ihre Freude, das Interesse am Buch würde gefördert und die armen Vorzugsschüler könnten für ihr Zeugnis auch etwas Greifbares nach Hause tragen.

Eine private Kulturenquete

Ich stand an der Ecke Stubenring-Weiskirchnerstraße und machte mein ausländischestes Gesicht. Ich fragte einen Herrn: „Wollen Sie mir, bitte, sagen, was sich in diesem Gebäude befindet?“ und wies auf das Kunstgewerbemuseum. „O bitte“, sagte der Herr, der Brille und Aktentasche trug und sehr gebildet aussah. „O bitte — das ist das Technologische Gewerbemuseum!“ Als er außer Sichtweite war, machte ich mich an eine Dame mit Einkaufstasche heran, verbeugte mich höflich Diesmal mußte das gute, alte Kunstgewerbemuseum als Ministerium herhalten. Ein weiterer Herr war davon überzeugt, vor einer Fabrik zu stehen. Zwölf Leute habe ich insgesamt gefragt. Fünf haben eine richtige Auskunft gegeben. Von diesen fünf war nur einer jemals in diesem Museum gewesen. „Kennen Sie mich nicht?“ sagte er, „ich bin doch der Portier!“

Dieses war der erste Streich. Den zweiten Streich erteilten die Wiener meinem patriotischen Herzen, als sie mich auf die Frage nach dem Volkskundemuseum dreimal ins Völkerkunde- und zweimal in ein anderes Museum, einmal in den Prater, zweimal auf die Währinger Straße und einmal sogar in die Vorgartenstraße schickten. Keine Ahnung, wo die ist. Das Volkskundemuseum ist jedenfalls in der Laudongasse und wurde von sechs Personen, einem Drittel der Gefragten, erkannt. Dieser Erfolg ermutigte mich zu höheren Zielen.

Zehn Personen hatten vom Uhrenmuseum noch nichts gehört, ein alter Herr machte sich erbötig, mich hinzuführen und es mir zu zeigen. Ich konnte nicht nein sagen und habe auf diese Art selbst zum erstenmal erfahren, wo das Uhrenmuseum ist. Ich kann es nur weiterempfehlen. Es war sehr interessant.

Leider konnte ich nicht lange bleiben. Ich wollte erfahren, wie viele Leute den Weg zum Stadion kennen. Von zwanzig Befragten gaben zwanzig die richtige Antwort. Den Wacker-Platz kannten nur achtzig, den Sitz des Fußballbundes (in der Berggasse) zehn Prozent der Befragten.

Dafür konnte mir niemand erklären, wo man in Wien ein Bild von van Gogh sehen kann. Nur drei von zehn Leuten konnten ein beliebiges Stück aus dem Theaterspielplan des Tages richtig angeben. Aber sechs von zehn Herren konnten einige Spiele der Totowoche nennen.

Zum Abschluß meiner Kulturenquete stellte ich midi an die Ecke Mariahilfer Straße- Zweierlinie. Ich wollte von zwanzig Menschen wissen, ob sie vor dem Kunst- oder vor dem Naturhistorischen Museum stünden. Fünfzehn Leute wußten, daß es sich um ein Museum handelte. Ein Herr war der Meinung, ich sei verrückt. Nur drei Leute wußten, daß es sich um das Naturhistorische Museum handelte. Dann mußte ich die Befragung abbrechen, weil ich doch selbst noch das Naturhistorische Museum besuchen wollte.

Ich ging hinein

Aber ich kam bald wieder heraus Es war das Kunsthistorischc Museum.

Samiel, hilf!

Herr Gustav Vlk, der zuerst 1953 mit der tschechischen Eishockeymannschaft in die Schweiz gekommen war, nachdem er als Journalist etliche Artikel schon Jahre vorher über dieses Land verfertigt hat, lieferte nun in einer Prager Illustrierten, zu Deutsch „Blüten“ betitelt, seine (Papier)-Blüten ab.

Auf der Fahrt von Zürich nach Basel erblickte Vlks Jüllerauge die Habsburg und hörte schon den Doppeladler rauschen: „Die Ruine dort drüben auf dem hohen Rücken, das ist der ursprüngliche Sitz der Habsburger.“ Der Gedanke, fittichbeschwingt, fliegt in die Vergangenheit; er ist freudig bewegt, antihabsburgische Bestrebungen wie in der tschechischen, so auch in der schweizerischen Geschichte aufspüren zu können. Das muß doch irgendwie in der Kunst seinen Niederschlag gefunden haben! Und Herr Vlk schlägt zu: „Geßler ist der traurige Held der berühmten Oper Carl Maria von Webers ,Der Freischütz!1 Hilf, Samiel! Da nun im Mai „die progressive Menschheit den fünfzigsten Todestag Antonin Dvoraks“ begeht, ist es bei dieser Gelegenheit nur recht und billig, auf den Gegensatz zwischen Webers Geßler und Dvoraks Symphonie „Aus der Neuen Welt“ hinzuweisen. „Mit den Augen des Künstlers und Humanisten nahm der Komponist das harte Schicksal der unterdrückten farbigen Völker Afrikas wahr " So hat er wackerer gegen Habsburg gekämpft — als vielleicht die Helden von Sempach. Hilf, Samiel! Deshalb hat wohl Dvorak sein Opus 68: „Aus dem Böhmerwalde" 1883 84

mit der Widmung versehen lassen: „Jeji, cisarske Vysosti Nejjasnejsi Pani Korunni Princezne Arcivevodkyni Stefanii v nejhlubsi ücte venuje skladatel“ (Ihrer Kaiserlichen Hoheit der durchlauchtigsten Frau Kronprinzessin Erzherzogin Stefanie in tiefster Ehrfurcht gewidmet vom Komponisten). Und darüber die Habsburgerkrone.

„Steh mir bei in dieser Nacht,

Bis der Zauber ist vollbracht,

Salbe mir so Kraut als Blei,

Daß die Kugel tüchtig sei!

Samiel, Samiel, herbei!“

(Freischütz, ohne Geßler). Aber, ach, wi® schießt Vlk schlecht!

Mit Sartreschem Realismus

Die Kulisse: ein elendes, schäbiges und brütend heißes Nest in Mexiko. Der Film heißt „Die Hochmütigen“, warum, bleibt unklar. Den Dialog schrieb Jean Paul Sartre. Die Geschichte ist simpel. Aber der Film ist eindrucksvoll photographiert, eben „gekonnt“, wie man zu sagen pflegt. Doch darauf kommt es jetzt nicht an. Sondern auf diese — beiläufige — Episode: Seuchengefährdete werden gespritzt. Der Arzt hat eine lange Nadel. Ruhig setzt er an, am Rückgrat. Lumbalpunktion nennt das der Fachmann. Millimeter um Millimeter dringt die Nadel in die Haut ein. Die Kamera sieht sehr genau zu. Ein Stück Rücken, Haut, zuckendes Fleisch, eine Nadel, manchmal ein Blick in ein schmerzverzerrtes Gesicht. Eine halbe Minute dauert das und noch eine halbe Minute. Großaufnahme. Es wird uns nichts erspart. Die Leute im Kino stöhnen, wer die Nerven hat kichert — aber wenige haben die Nerven. Links neben mir ein junger Mann stößt irgendwelche Laute aus, schreit, schlägt um sich, rutscht vom Sitz. Ein Anfall. Epilepsie. Man schleppt ihn fort. Vielleicht war er einmal auf solche Weise behandelt worden, hatte die Schmerzen erlitten, die da gezeigt wurden. Vielleicht hatte es auch nur einer anderen Erregung bedurft, den Anfall auszulösen. Aber es war nun einmal der Film. Es war die barbarische Drastik einiger Aufnahmen, die von den Produzenten als Höhepunkt realistischer Kunst gedacht waren.

Lumbalpunktionen gehen genau so vor sich, wie die Kamera das festhielt. Ein medizinischer Lehrfilm hätte es nicht besser machen können. Mit Kunst hat das nichts mehr zu tun. Es war auch nicht notwendig — dem Film hätte nichts gefehlt, hätte man die Szene weggelassen. Dennoch: ein Appell an die Nerven des hochverehrten Publikums, eine kleine Sensation als Dreingabe.

Sie kam an: Die Leute haben ja so lange nichts mehr erlebt: weder von Bomben zerfetzte Leiber noch die Schüsse von Exekutionskommandos, weder Kälteexperimente noch blutende Pferdekadaver. Das alles liegt schon so lange zurück. Sie fangen wieder an, empfindsam zu werden. Man muß ihnen ‘mal wieder zeigen, was ‘ne Harke ist! Der Film schafft das mit ein bißchen Chirurgie. Das nennt man dann „Realismus“ und tut so, als ginge es um Kunst.

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